Die Geliebte des Normannen
Mary entzückt. Zur Zubereitung dieser Mahlzeit würde die Magd noch weitere Frauen aufwecken müssen. Mary wusste, dass die alte Frau alles aufwärmen musste, und da die Feuer in der Küche mittlerweile erloschen waren, würde das eine ganze Weile dauern. Mary mutmaßte, dass sie wahrscheinlich eine Stunde oder mehr Vorsprung vor Duncan und seinen Männern bekäme.
Aber sie hatte nicht mit den Hunden gerechnet.
Die Nacht war sternenklar. Als Mary aus dem Tunnel ins Freie trat, fühlte sie sich erst einmal in Hochstimmung. Sie würde keine der Kerzen brauchen, die sie mitgenommen hatte, denn der Halbmond und der Sternenhimmel gaben genug Licht. Und da sie den Tunnel als Kind oft benutzt hatte, wusste sie genau, wo sie sich befand. Bislang war ihre Flucht geradezu unglaublich leicht gewesen.
Aber im nächsten Augenblick hörte sie das erste, einsame Heulen, und damit war ihr Hochgefühl schlagartig verschwunden.
Mary stand am Waldrand. Ihr Plan war gewesen, direkt in den Ort zu laufen und dort ein Pferd zu stehlen. Jetzt blieb sie wie angewurzelt stehen. Bei dem vereinzelten, wolfsähnlichen Geheul gerann ihr das Blut in den Adern, und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Bitte, lieber Gott, betete sie stumm, lass es einen wilden Wolf sein.
Und dann begann das Gebell.
Mary schrie vor Entsetzen beinahe auf. Duncan hatte ein Rudel Wolfshunde losgelassen; sie wurde schon jetzt verfolgt. Keine Viertelstunde war vergangen, seit sie Eiric in die Küche geschickt hatte. Die Magd musste kurz darauf noch einmal zu ihrem Gemach zurückgekommen sein – Mary hatte nicht daran gedacht, dass sie das tun könnte. Sie hob ihre Röcke und begann zu laufen, so schnell ihr Zustand es erlaubte.
Sie überlegte krampfhaft, welche Möglichkeiten ihr blieben. Sie hatte sich darauf verlassen, eine Stunde oder mehr Vorsprung vor ihren Verfolgern zu haben. Jetzt aber hatte sie fast gar keinen Vorteil mehr. Ursprünglich wollte sie im Ort ein Pferd suchen und wie der Wind nach Northumberland reiten.
Jetzt, überlegte sie, könnte sie ein Boot stehlen und über den Firth of Forth ins Benediktinerkloster Dunfermline rudern.
Aber bei keinem dieser Pläne bestand nun mehr eine Hoffnung auf Erfolg. Die Hunde heulten wie besessen. Sie hatten den Burghof verlassen und mussten noch Marys Geruch auf nehmen, aber das würde nicht allzu lange dauern. Mary glaubte nicht, dass sie es bis in den Ort schaffen würde, um dort ein Boot aufzutreiben, und schon gar nicht bis zum Firth of Forth.
Sie machte kehrt und floh von Angst gepackt in den Wald. Wie konnte sie Duncans Männern und den Hunden entkommen, wenn sie zu Fuß flüchtete? Sie hatte eine einzige, winzige Chance auf Erfolg – wenn sie denselben Trick versuchte, mit dem ihre Entführer Stephens Männer abgeschüttelt hatten.
Sträucher, Farne und Dornen schlugen an ihre Beine und Hüften, rissen ihr die Haut auf. Mary ignorierte es. Sie rannte einen Wildwechsel entlang, den sie seit ihrer Kindheit bestens kannte und schon häufig benutzt hatte. Das Gebell blieb etwas zurück. Gott sei Dank, die Hunde waren in die falsche Richtung gelaufen.
Mary verlangsamte ihren Schritt. Ihr Herz hämmerte wie wild, sie bekam kaum Luft. Seitenstechen plagte sie, sie musste für einen Moment anhalten und verschnaufen. Aber sie wusste, sie konnte jetzt nicht lange stehen bleiben. Die Hunde konnten jeden Augenblick ihren Geruch aufnehmen, und dann würden sie innerhalb von Minuten da sein.
Mary wartete noch einen Herzschlag lang, um sicherzugehen, dass es nur ein Krampf war und nicht mehr. Dann begann sie, eine steile Böschung hinunterzuklettern.
Sie strauchelte und stolperte, fiel schließlich auf den Hintern und rutschte das letzte Stück. Der Boden war sehr feucht, doch darauf war sie gefasst gewesen. Am Grund der Schlucht angekommen, war sie schon wieder außer Atem. Wie sollte sie fliehen, wenn sie nicht mehr als ein paar Schritte laufen konnte, ohne gleich jämmerlich japsen zu müssen?
Ihr Plan hatte sich in Luft aufgelöst. Ohne ein Pferd würde sie es nie bis Northumberland schaffen. Ihr Wille allein war nicht stark genug, um sie nach Hause zu bringen; sie brauchte körperliche Stärke – körperliche Kraft, die sie einfach nicht besaß.
Mary stand auf. Die Hunde hörten sich auf einmal lauter, näher an.
An ihrem Gebell erkannte sie jedoch, dass die Meute ihre Spur noch nicht gefunden hatte. Aber zweifellos hatten die Hundeführer die Richtung gewechselt und kamen nun um die Burg herum auf
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