Die Geliebte des Normannen
seid.«
Sie schaffte es, vor seinem wutentbrannten Blick nicht zurückzuschrecken. Er verließ das Podest und rief nach seinem Verwalter. Mary beobachtete, wie der Mann herbeieilte, und einen Augenblick später hatte Stephen mit ihm den Saal verlassen.
Jetzt erst begann sie zu zittern und ließ sich wie erschöpft auf ihren Stuhl zurücksinken. Was hatte sie gepackt, dass sie ihn dermaßen beschuldigte? Sie zweifelte nicht an seinem Ehrgeiz, doch ihm diesen vorzuhalten, bedeutete, Unheil heraufzubeschwören.
»Mit einem hübschen Lächeln und einer gewinnenden Art werdet Ihr bei ihm viel erreichen, Prinzessin. Ihn wütend zu machen ist sicher unklug.«
Mary wandte sich Geoffrey zu.
»Warum wollt ihr ihn an seine Grenzen treiben?«, fragte der Erzdiakon ernst, aber nicht unfreundlich.
Sie starrte ihn entgeistert an.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht.«
»Vielleicht solltet Ihr daran denken, dass Stephen immer erreicht, was er sich vornimmt. Dass Ihr seine Gemahlin werdet, weil er noch nie so entschlossen war. Da Ihr das wisst, Prinzessin, und da Ihr keine Närrin seid, warum hört Ihr nicht auf, Zwietracht zu säen?«
Mary blickte auf Stephens Dolch, der senkrecht in der Tischplatte steckte. Die meisten Frauen würden die Torheit solchen Trotzes und die Unumgänglichkeit dieser Heirat anerkennen und sich entsprechend verhalten. Aber sie war nicht wie die meisten Frauen.
»Wie kann ich das tun?«, flüsterte sie, endlich Geoffreys Blick erwidernd. »Wenn ich weiß, dass mein Vater, mein König, meine Loyalität fordert?«
Geoffrey bekam schmale Lippen.
Ein Alarmsignal ertönte und unterbrach sie.
Mary erschrak. Geoffrey, Brand und die vielen Gefolgsleute im Saal standen sofort auf. Das Hornsignal konnte nur eine Warnung vor Gefahr sein; nun folgte ihm auch noch das wilde Läuten der Kapellenglocke.
»Auf die Mauern!«, rief Brand.
Die Männer rannten aus dem Saal. Mary blieb reglos sitzen. Isobel wurde in die oberen Gemächer gebracht, um das Ende der Krise abzuwarten, wie es Frauen geziemte. Doch sie sträubte sich.
»Ich will mit meinen Brüdern gehen«, rief sie. »Ich bin alt genug, und ich will wissen, was los ist!«
»Du wirst sofort mit mir kommen, junge Lady!«, schimpfte Edith, ihr Kindermädchen, und gab ihr eine schallende Ohrfeige.
Mary traf eine rasche Entscheidung. Sie rannte quer durch den Saal, die Schreie der Frauen hinter ihr ignorierend, und hinter den Männern her.
Die Röcke bis zu den Knien gerafft, hetzte sie schnell wie ein Reh über den Burghof und erreichte die Mauer gerade, als Stephen und seine Brüder ansetzten, die Treppe zum Wachturm hinaufzusteigen. Mary folgte ihnen.
Es herrschte ein solches Chaos, dass sie zunächst gar nicht bemerkt wurde. Doch plötzlich drehte sich Stephen auf der steilen Treppe um. Als er sie sah, riss er vor Schreck die Augen auf.
Mary ließ sich nicht aufhalten. »Jesus! Gerard, bring die Prinzessin in den Wohnturm, sofort, und sieh zu, dass sie auch dort bleibt«, brüllte er. Dann verschwand er aus ihrem Blickfeld.
Starke Hände packten Mary von hinten und hoben sie hoch. Sie schrie und kämpfte wie wild, doch umsonst; man trug sie über den Hof zurück in den Saal, brachte sie nach oben, wo die Frauen alle versammelt waren, und setzte sie dort abrupt ab.
Sie war wütend. Doch ein Blick in das unbewegte, ärgerliche Gesicht des Ritters sagte ihr, dass sie verloren hatte. Keuchend wandte sie sich den Frauen zu, die alle, sogar Isobel, schockiert auf sie starrten.
»Das ist Malcolm«, rief Mary. »Malcolm Canmore, der König von Schottland, ist endlich da, um mich zu befreien!«
8
Ohne Malcolm Canmores weiße Flagge hätte Stephen mit seinen Rittern niemals die unbezwingbaren Mauern von Alnwick verlassen, so wenig vertraute er diesem Mann. Als er nun an der Spitze seiner Männer durch das Vorwerk der Burg ritt, das Banner der Rose über ihnen im Wind flatternd, spürte er Erregung in sich aufsteigen. Auf diesen Moment hatte er gewartet, seit er die Wahrheit über Mary in Erfahrung gebracht und beschlossen hatte, sie zu seiner Gemahlin zu machen.
Größte Vorsicht war geboten, denn es stand unglaublich viel auf dem Spiel. Er musste Malcolm überzeugen, ihm seine Tochter zur Braut zu geben. Endlich schimmerte der Frieden wie ein feiner Silberstreifen am Horizont, der bislang blutrot gefärbt war, und nichts würde ihn aufhalten, ihn durchzusetzen.
Malcolms Erscheinen kam nicht überraschend. Stephen hatte den schottischen
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