Die Geliebte des Trompeters
verschwunden. Das kam in Berlin alle naslang vor, aber Irmgard bestand darauf, dass Siegfried ihn suchen ginge. Er weigerte sich: Das konnte er nicht. Wo sollte er anfangen? Er hatte keinerlei Indizien. Wollte sie, dass er sie alle in Gefahr brächte?
Ach, konterte sie, aber eine wehrlose Frau einfach aussetzen, das, das kannst du, ja?!
Es nützte ihm nichts, dass er sagte, Marie sei keineswegs wehrlos, als Übersetzerin sei sie vielmehr überall eine gefragte Spezialistin, die sicher bald mehr Geld verdienen würde als sie alle zusammen. Und überhaupt, warum verteidigte sie dauernd diese eigentlich wildfremde Person? Und da sagte Irmgard, leise noch immer, aber bitterböse:
Diese Person, wie du sie nennst, die gehört zu mir, und wenn hier einer wildfremd ist, dann bist du es!
|119| Eine Tür öffnete und schloss sich, jemand bat um Ruhe und wurde angeschrien, dann flackerte ein Licht durch den Flur, und durch den geöffneten Türspalt sahen die Schwestern, dass es Marie war, Marie in einem langen, leinenen Nachthemd, das einmal weiß gewesen war und als Bettlaken gedient hatte. Marie, die seit ein paar Tagen bei Frau Wegener und ihrem Sohn schlief, während in der Küche ein neuer Untermieter Platz gefunden hatte, ein Maler oder der Gehilfe eines Malers, der Dosentomaten zum Lebensunterhalt beitrug. Marie im Lakenhemd ging leise zur Schlafzimmertüre und klopfte, für einen Moment wurde der Disput unterbrochen und die Türe geöffnet, und dann hörten die Mädchen, wie der Vater sagte: Na, da kommen Sie ja gerade recht, hereinspaziert!, und dann wurde Marie ins Zimmer gezogen, die Tür zugeworfen, der Streit lauter, wie ein Wagen, der nach einer langgezogenen Kurve wieder Fahrt aufnimmt.
Komm!, sagte Renate. Komm! Hier ist kein Platz für uns. Leise zogen sie sich an und schlichen hinaus. Stromsperre. Im Treppenhaus gab es kein Licht. Etwas huschte. Ratten? Etwas zappelte. Fledermäuse? Ein Geruch zog an ihnen vorbei. Farben. Und Terpentin. Und Zigarettenrauch. Der Geruch grüßte. Es war der Maler oder Malergehilfe, der wie jeden Abend sehr spät nach Hause kam. Entschuldigung … Aber da waren sie schon an ihm vorbei, im Freien, auf der Flucht vor einer Normalität, die nicht zum Aushalten war.
Arme. Beine. Viele Arme und viele Beine. Ein vielgliedriges Wesen, dessen Physiognomie nicht zu durchschauen war. Das Wesen hatte auch Münder, viele Münder, aus denen es sickerte und stöhnte und bellte. Das Sickern war nicht sichtbar, sondern hörbar. Sichtbar hingegen war die Haut, war das Fleisch. Sichtbar waren Schwellungen und Dehnungen und gespannte Muskeln und nachgiebige Fleischpolster, die gegen |120| Öffnungen gedrückt wurden. Öffnungen. Größere als die Münder, dunklere. Die konnte man freilich kaum sehen, mehr ahnen, zumal das vielgliedrige Wesen kaum stillhielt, sondern sich ununterbrochen wand und zuckte wie unter Schmerzen.
Die Liebessklavinnen vom Montmartre
hieß der Streifen, den sie sich gemeinsam anschauten – Dick, Moni, die Jungs von der Wachmannschaft und ein paar befreundete Offiziere. Und die kichernden Krankenschwestern, die ununterbrochen Wein tranken und Dick durch die Haare fuhren.
Western Theater
nannte Dick großspurig sein improvisiertes Kino, wo er zweimal in der Woche
specials
vorführte, amerikanische und französische Pornos, nach deren Ende es alle furchtbar eilig hatten, in ihre Unterkünfte zu kommen. Eintritt verlangte Dick auch: harte Dollars, Zigaretten oder Schnaps, den er systematisch hortete und dann weiterverkaufte.
Auf dem Schwarzmarkt der U S-Streitkräfte ging inzwischen nichts mehr ohne Dick. Alle paar Wochen schickte er per Postanweisung einen größeren Betrag nach Hause in die Staaten. Keine Frage: Wenn die Dienstzeit für den Obergefreiten Richard D. Douglas, genannt Dick, abgelaufen sein würde, war der Neunzehnjährige ein gemachter Mann. Dabei war Dick vorsichtig. Sorgte dafür, dass alle, die vermeintlich seine Gäste waren, Spuren hinterließen, Indizien, an die er sie gegebenenfalls erinnern konnte. Falls sie einmal nicht zahlen wollten. Oder an der falschen Stelle gesprächig wurden. Den Mädchen besorgte er die richtigen Einladungen. Und Penicillin, wenn’s nötig wurde. In dringenden Fällen auch die Adresse einer Engelmacherin, die im russischen Sektor wohnte und berühmt für ihre blitzschnellen Problemlösungen war.
Die Mädchen fanden Dick erst süß und hinreißend, dann wurden sie böse auf ihn und schmollten, und manche
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