Die Geliebte des Trompeters
Radio. Der amerikanische Soldatensender AFN vermittelte bis Mitternacht die Illusion, dass sie nicht vergessen waren auf dieser grauen Insel. AFN brachte Grüße aus der Heimat und, was viel wichtiger war, die richtige Musik. Duke Ellington, Glenn Miller, das war zwar nicht hundertprozentig sein Ding, aber es kam dem ziemlich nahe. Es war gut, es hatte Drive, es zeigte ihm, was zu Hause los war und was er, verdammt noch mal, alles verpasste.
Chet hatte der miesen Situation zu Hause entfliehen wollen, aber seine Flucht war allzu gut gewesen: Er war nun weit weg von allem, nicht nur von seinem gewalttätigen Vater und der ewig jammernden Mutter. Er war weit weg von allem, was cool und angesagt war und was ihn weiterbringen würde. Chet lauschte, das Ohr dicht am Lautsprecher, um die schnarchenden Kameraden nicht zu wecken. Es gab einige, die brav um zehn Uhr im Bett lagen und ihre Nachtgebete verrichteten. Was für Weicheier! Das hier war gar nicht schlecht. Der gute alte St.-Louis-Blues in einer verjazzten Variante, ein |112| paar Tempowechsel, ein bisschen
slower
und
smoother,
hier und da ein kleiner Cut, und aus dem netten, harmlosen Stück würde im Nu etwas Neues, das Kraft hatte, vielleicht sogar etwas Wildes. Früher hatte Chet genau diese Art von Musik geliebt. Und für eine Militärcombo waren Glenn Miller und Bing Crosby in der Tat etwas Neues. Aber Chet hatte ausgerechnet in Berlin etwas anderes entdeckt.
Eines Abends, als er schlaflos unter seiner steifen Decke lag und lustlos in einem Comic blätterte, hatte er aufgehorcht: Da waren sie, die unerhörten Trompetentöne, die ihn schon vor ein paar Wochen so irritiert hatten. Dem Typen, der da spielte, waren Wohlklang und Ausgewogenheit, diese alten Musikertugenden, total egal. Wenn die Trompete im Idealfall einer menschlichen Stimme glich, dann war das hier eine Stimme, die brüllte, die kreischte, die Stimme eines Mannes, der nachts betrunken an einer fremden Haustür rüttelt und Einlass begehrt. Nein, nicht an einer Tür, an Dutzenden! Die Musik war Chet völlig fremd, und sie war ihm sofort vertraut. Er saß senkrecht im Bett, er drehte am Lautstärkerädchen, bis seine Kameraden anfingen, ihn mit Gegenständen zu bewerfen.
Aber da hatte er es schon kapiert: Dizzy Gillespie. So hieß der Typ, und was er mit seinem Horn zustande brachte, war eine Offenbarung. Seitdem wartete Chet. Er wartete zwei Mal in der Woche wie ein Mädchen, das eine halbe Stunde zu früh am verabredeten Ort eines Rendezvous auf und ab geht. Ach was, ein Rendezvous! Dabei wussten die Mädchen ja immer schon, was sie erwartete, und taten mit ihrer schlechten Schauspielerei nur, als wären sie völlig überrascht – bei Dizzy aber wusste man gar nichts. Er konnte ganz sanft und traditionell seine Standards blasen, aber dann passierte irgendwas, ein Kick, ein Bruch, und dasselbe Stück ging weiter, als explodierte irgendetwas in den Noten. Chet versuchte, sich vorzustellen, |113| wie Dizzy in der Army Band ankommen würde, wie er, angenommen, es hätte nicht ihn, Chet, sondern Dizzy nach Berlin verschlagen, unter der Fuchtel des Bandleaders zurechtkommen würde. Er kicherte leise. Zwischen Dizzy und dem braven Howard Glitt würde es ein Gemetzel geben, so viel war klar. Dizzy war ganz sicher keiner, der sich anbiederte und einfügte, sein Signalton würde sofort das brave Getute der anderen überflügeln. Getute! Ein angepasstes, gefälliges Herummusizieren, unverbindlich, gleichgültig und gemein. So kam ihm plötzlich vor, was sie da jeden Tag übten. Und genau aus diesem Grund war Dizzy wohl auch aus der Band von Cab Calloway herausgeflogen, den Chet, seit er das erfahren hatte, für einen dressierten Affen hielt. Wie hatte er dessen Musik nur je gut finden können!
Chet versuchte, keine der Jazz-Sendungen im AFN zu verpassen. Er lag allein im Dunkeln, und unwillkürlich kreisten seine Gedanken um sein Zuhause, nicht das laute Elternhaus, das ihm keine Geborgenheit gab, er dachte an die Landschaft, an die Plantagen in Orange County, er dachte an den nächtlichen Zauber des Pazifik, der leuchten konnte wie Jade. Auf seiner Pritsche in Berlin erschien ihm das feine, grüne Licht des Radio-Glühfadens wie das Licht der Laternen an der Uferpromenade, die zu einem einzigen Lichtstrahl verschwammen, wenn er mit dem Auto vorbeibrauste. Das hatte er schon mit vierzehn hinbekommen. Autos leihen. Sie waren jedenfalls so gut wie geliehen.
Er lauschte. Der Moderator kam aus New York und
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