Die Geliebte des Trompeters
saß jetzt in Frankfurt, und wenn er ihm zuhörte, klang es, als spräche er nur zu ihm. Mark. Hank. Tom. Die Sprecher des AFN waren richtige Kumpel. Wenn Chet ihnen zuhörte, dann spürte er eine Zugehörigkeit. Und wenn Dizzy spielte, spürte er eine Verbundenheit mit der Musik selbst.
Jemand klopfte. Die Kameraden brummten ärgerlich. Jemand |114| trat ein: Dick. In seiner Ausgehuniform. In der Linken hielt er eine schwach leuchtende Taschenlampe, aber selbst in dem schummrigen Licht sah man, dass er strahlte. Eindeutig: Dick Douglas hatte wieder einmal etwas ausgeheckt. Komm schon, Kleiner, genug geschlafen!
Ich hab keinen Ausgang.
Dick lachte. Er zog ihm die Decke weg: Mach schon! Das Leben ist kurz!
Chet schaltete das Radio aus. Er folgte ihm – wie immer, ohne zu fragen.
Renate hielt ihre Hand. Sie saßen beide auf Rickys Bett, und obwohl Renate versuchte, die ältere, die vernünftige Schwester zu sein, spürte Ricky doch, dass sie zitterte. Es war kühl im Zimmer, nachts war die Luft jetzt im Juni noch frisch. Sie roch nach Mörtel und Feuchtigkeit, aber das war es nicht. Renate zitterte, weil sie ein Streit geweckt hatte. Hör nur!, sagte sie flüsternd. Es geht wieder los!
Ricky lauschte. Eindeutig, was Renate meinte: Im Elternschlafzimmer hörte man Stimmen. Erregte Stimmen, die sich vergeblich bemühten, nicht überall gehört zu werden. Der Vater, mit mühsam unterdrückter Wut, die Mutter, leise und scharf. Die Mädchen nannten das Mutters
Zornpfeifen
.
Einmal, noch vor dem Krieg, waren sie alle zusammen im Tiergarten gewesen, damals, als der Tiergarten noch kein Sammelsurium abgehackter Stämme und gefledderter Büsche gewesen war. An einem kleinen Weiher hatten sie Schwäne entdeckt und waren fröhlich darauf zugelaufen. Einer der Vögel war mit erhobenen Schwingen auf sie zugekommen und hatte ein lautes, böses Zischen hören lassen. Wie Mutter!, hatte Renate damals überrascht ausgerufen, und Ricky hatte sich lange nicht beruhigen können vor Lachen: Ihre Mutter, ein Schwan! Jetzt war er wieder zu hören: dieser warnende, |115| bösartige Schwanenton. Er besagte: Bis hierher und nicht weiter. Er sagte: Das ist mein Revier. Er sagte: Wenn ich dich hier dulde, dann nur, weil ich es will.
Siegfried Krampitz kannte diesen Ton, aber er hatte ihn vergessen. Oder er scherte sich nicht darum. Man wusste nicht, was dümmer war. Siegfried Krampitz glaubte, er hätte ein Recht. Das war die nächste, womöglich noch größere Dummheit. Sicher, er war siegestrunken wie die anderen aus Polen zurückgekehrt, von diesem schnellen, viel zu leicht errungenen Sieg, und er hatte kein Halten mehr gekannt, als sie auch Frankreich genommen hatten, im Sturm. Was sie da wollten? Die Fragen seiner Frau waren nur aus weiter Ferne zu ihm gedrungen, und natürlich war er einer der ersten gewesen, die sich dann an die Ostfront gemeldet hatten. Konnte nicht genug bekommen, der Mann!, sagten die Nachbarn. Sicher, auch Abenteuerlust war dabei gewesen, das Gefühl, endlich Teil von etwas Großem zu sein. Das war schon etwas anderes, als den Leuten Tag für Tag die Kohle in ihre stinkenden Keller zu schaufeln! Das war schon etwas anderes, wie die Leute in den eroberten Gebieten nun zu ihm aufschauten! Und die Kameraden. Sie verließen sich auf ihn. Sie warteten auf ihn, wie er auf sie wartete. Einer für alle und alle für einen.
Aber so etwas verstand die Frau nicht. Die Frau verstand nur das Praktische, das Naheliegende. Er hatte Größeres im Sinn. Aber dann, als der Feldzug ins Stocken geriet, als sie plötzlich mehr Zeit hatten, als ihnen lieb war, als sie plötzlich verlassene Dörfer sahen, zerstörte Kirchen, hunderte fliehender Frauen und Kinder, verhungernde Tiere, da war Siegfried Krampitz wieder zu sich gekommen, schneller als die meisten seiner Kameraden. Und die bohrenden Fragen seiner Frau waren ihm wieder eingefallen, ihre Skepsis, ihre hochgezogenen Augenbrauen, die Art, wie sie die Kinder an sich zog, wenn er mit seinem Gewehr in der Tür stand.
|116| Immer häufiger war ihm Irmgards Stimme in den Sinn gekommen, und irgendwann war Siegfried Krampitz bewusst geworden: Die Frau hatte recht. Und das war, anders als früher, auch gar nicht weiter schlimm, er fühlte sich von dieser Erkenntnis keineswegs düpiert, denn die Frau war ja ein Teil von ihm, Teil seines Lebens, also hatte auch er ein bisschen recht, sie waren nicht allein, und sie würden es schaffen.
Nie hatte er sich Irmgard so verbunden
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