Die Geliebte des Trompeters
gefühlt wie im Dreck von Byalistok und in den russischen Sümpfen, und er fieberte einer Gelegenheit entgegen, es ihr zu sagen. Diese Gelegenheit freilich ergab sich nie, es ergaben sich nach dem Sommer 1943 überhaupt keine Gelegenheiten mehr, sondern nur noch Katastrophen, immer größere, immer blutigere Katastrophen, und einmal, als sie ihn nach Hause ließen, da war er verwundet und erschöpft, und er war keinen Augenblick mit Irmgard allein, die seine Stirne wusch und ungewohnt sanft sch-sch … machte, wenn er versuchte, mit ihr zu reden. Das war, wenn er’s recht bedachte, das letzte Mal, dass sie so langmütig mit ihm war, danach schlich sich eine Fremdheit ein, eine Entfernung, die er jedes Mal spürte, wenn er nach Hause kam. Dann waren sie auf dem Rückzug, dann waren sie eingekesselt, dann glaubte er, sein Leben sei verwirkt, und lernte zu beten.
Aber Siegfried Krampitz starb fürs erste nicht, sondern wurde nur einer von hunderttausend Gefangenen, und als einer von hunderttausend kam er nach Hause. Sein Zuhause stand noch. Das Haus in der Akazienstraße beschädigt, aber nicht zerstört. Die Wohnung von fremden Leuten besetzt, aber nicht geplündert. Die Mädchen weiß und mager und kalt, aber sie lebten. Siegfried Krampitz glaubte, sie könnten von vorne beginnen. Alles sollte so werden wie früher, nur besser. Und da machte ihm Irmgard einen Strich durch die Rechnung. Erst quartierte sie ihn aus, zu Bruder und Schwägerin, |117| angeblich, weil man in der vollbesetzten Wohnung niemand mehr unterbringen konnte, und schließlich: Die anderen zahlten. Fassungslos über die Kälte des Empfangs brach Siegfried Krampitz zusammen. Ein Gast im eigenen Haus! Er ließ sich gehen. Versoff alles, was ihm in die Hände kam. Kriegte das Zittern. Und raffte sich doch irgendwann wieder auf. Auf dem Flughafen Tempelhof brauchten sie Kohlearbeiter, auch am Spreehafen, kräftige Männer, die bei den Hilfslieferungen der Alliierten Hand anlegten, Männer wie ihn, starke Männer, die auch Mehlsäcke, Reis und Holz schleppen konnten. Siegfried Krampitz hatte wieder eine Arbeit, wenn auch eine miserabel bezahlte.
Und dann, eines Tages, hatte er wieder bei Irmgard vorbeigeschaut und war zufällig dagewesen, als gerade ein paar Fenster geliefert wurden. Das war nun wieder typisch Irmgard! Sie hatte es geschafft, zu den ersten zu gehören, die wieder Licht durch die Fenster hereinlassen konnten. Siegfried spürte denselben Stolz auf sie wie früher, und er fasste kräftig mit an. Er trank ihr schales, warmes Bier, und wenig später spürte er ihren warmen, hager gewordenen Leib. Aber nicht lange. Sie entzog sich ihm erneut. Und dabei blieb es. Natürlich hatte er mitbekommen, dass das etwas mit dieser komischen Person zu tun hatte, die bei ihr wohnte. Mit Marie. Er ahnte, dass sie und Irmgard mehr verband als die typische Freundschaft unter Frauen, wie er sie sich vorstellte: mit Klatsch und dem Austausch von Kochrezepten und einem gemeinsamen Friseurbesuch. Nichts lag Irmgard ferner als diese Art von Zerstreuung, auch vor dem Krieg war das so gewesen.
Das mit Marie war nun freilich etwas anderes. Es beunruhigte ihn. Aber Siegfried Krampitz wollte nicht kleinlich sein. In den Wäldern und in den eiskalten Lagern von Russland waren sich manche Kameraden auch näher gekommen, als schicklich war. Herrgott, was war schon schicklich, wenn man bis zur |118| Halskrause im Dreck steckte! Ein anderer Mensch wärmte, und was wärmte, war gut! So war es den Frauen zu Hause wohl auch ergangen, und wenn Siegfried Krampitz ganz ehrlich war, war ihm so eine Marie allemal lieber als ein Vince oder Sascha oder Jean-Pierre. Das gab es ja schließlich auch.
Aber nun machte Irmgard einen Tanz um Marie – das war nicht mehr normal. Dabei verlangte er überhaupt nicht, dass Marie sofort auszog. Er hatte nur vorgeschlagen, dass sie sich um ein Zimmer bemühte. Irgendwann. Irgendwo. Die Wegeners konnte man schließlich nicht gut hinauswerfen. Die brauchten sie. Die arme Frau Wegener! Nicht genug, dass sie Bernie, ihren Zweiten, noch in den letzten Kriegstagen verloren hatte, vor vier Tagen war auch ihr Mann verschwunden, abgeholt worden von seiner Arbeit. Es war nicht die übliche sechswöchige Lagerhaft zur Entnazifizierung, es war etwas anderes, Unklares, das nach Entführung roch. Die Arbeitskollegen wollten einen russischen Jeep gesehen haben, ein Gefuchtel mit Pistolen, und dann war Wegener widerstandslos eingestiegen und blieb
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