Die Geliehene Zeit
Mannes gebohrt. Die Eintrittswunde sah so harmlos aus, daß niemand den Splitter bemerkt hatte, auch nicht der Patient, dem ohnehin das ganze Bein wehtat. Während die Wunde oberflächlich verheilt war, hatte sich in dem Muskelgewebe darunter ein Eiterherd gebildet, der äußerlich nicht zu erkennen war - zumindest nicht mit menschlichen Sinnen.
Nachdem ich die Eintrittsstelle etwas aufgeschnitten hatte, förderte
ich mit einer langen Pinzette einen acht Zentimeter langen, von Blut und Eiter überzogenen Holzsplitter zutage.
»Nicht schlecht, Bouton.« Ich nickte ihm respektvoll zu. Er hechelte glücklich und schnupperte in meine Richtung.
»Ja, sie ist recht gut«, sagte Mutter Hildegarde, und da Bouton ein Männchen war, bestand kein Zweifel, wen sie meinte. Bouton leckte meine Finger zum Zeichen kollegialer Anerkennung. Ich unterdrückte das Bedürfnis, mir die Hand an meinem Gewand abzuwischen.
»Erstaunlich«, sagte ich und meinte es auch so.
»Ja«, erwiderte Mutter Hildegarde beiläufig, aber mit unüberhörbarem Stolz. »Er ist auch sehr gut beim Aufspüren von Geschwülsten unter der Haut. Zwar weiß ich oft nicht, was er am Atem oder am Geruch des Urins feststellt, aber er hat eine unmißverständliche Art zu bellen, wenn eine Verdauungstörung vorliegt.«
Unter den gegebenen Umständen sah ich keinen Grund, dies in Zweifel zu ziehen. Ich verbeugte mich vor Bouton, dann griff ich zu einem Fläschchen pulverisierten Johanniskrauts, mit dem ich die Entzündung behandelte.
»Ich freue mich über deine Hilfe, Bouton. Du kannst jederzeit wieder mit mir zusammenarbeiten.«
»Das ist sehr vernünftig von Ihnen«, Mutter Hildegarde lächelte und entblößte ihre kräftigen Zähne. »Viele der Ärzte und chirurgiens, die hier arbeiten, sind weniger geneigt, sich seine Fähigkeiten zunutze zu machen.«
»Äh, ja...« Ich wollte niemanden in Verruf bringen, doch mein flüchtiger Blick zu Monsieur Voleru am anderen Ende des Saales war vielsagend.
Mutter Hildegarde lachte. »Nun, wir nehmen, wen Gott uns schickt, obwohl ich mich manchmal frage, ob er sie nicht nur deswegen zu uns schickt, damit sie anderswo kein Unheil anrichten können. Immerhin sind die meisten unserer Ärzte besser als nichts - wenn auch nicht viel. Sie jedoch, Madame«, abermals blitzte ihr Pferdegebiß auf, »sind erheblich besser als nichts.«
»Danke.«
»Aber es wundert mich», fuhr Mutter Hildegarde fort, während sie mir beim Verbinden zusah, »warum ich sie nur bei Patienten mit Verletzungen und Brüchen sehe. Diejenigen, die Ausschlag, Husten
oder Fieber haben, meiden Sie, obwohl sich doch üblicherweise les maîtresses mehr mit diesen Fällen befassen. Ich glaube, ich habe noch nie einen weiblichen chiruigien gesehen.« Les maîtresses waren die nicht amtlich zugelassenen Heilerinnen, die meist aus der Provinz stammten und sich auf Kräuterheilkunde, Umschläge und Amulette verstanden. Mit les maîtresses sage-femmes bezeichnete man die Hebammen, die gewissermaßen die Elite unter den volkstümlichen Heilkundigen darstellten. Manche rangierten im Ansehen höher als die zugelassenen praktischen Ärzte und waren besonders bei Patienten der unteren Gesellschaftsschichten gefragt, denn sie galten nicht nur als fähiger, sondern waren auch wesentlich billiger.
Es erstaunte mich nicht, daß Mutter Hildegarde meine Neigung bemerkt hatte. Ich hatte schon lange erkannt, daß ihr kaum etwas entging, was in ihrem Spital passierte.
»Es liegt nicht an mangelndem Interesse«, versicherte ich ihr. »Ich bin schwanger. Deshalb halte ich mich von ansteckenden Krankheiten fern, um des Kindes willen. Knochenbrüche sind nun mal nicht ansteckend.«
»Manchmal bin ich mir da nicht so sicher«, meinte Mutter Hildegarde mit Blick auf eine Bahre, die gerade hereingetragen wurde. »Diese Woche scheinen sie eine richtige Seuche zu sein. Nein, gehen Sie nicht hin«, hielt sie mich zurück. »Schwester Cecile wird sich darum kümmern. Wenn nötig, wird sie Sie rufen.«
Die kleinen grauen Augen der Nonne taxierten mich neugierig.
»Dann sind Sie also nicht nur eine Dame, sondern auch schwanger, und Ihr Mann läßt Sie trotzdem hierherkommen? Er muß ein ganz außergewöhnlicher Mensch sein.«
»Nun, er ist Schotte«, antwortete ich ausweichend, da ich nicht über die Vorbehalte meines Mannes reden wollte.
»So, so, ein Schotte.« Mutter Hildegarde nickte verständnisvoll.
Das Bett wackelte, als Bouton herabsprang und zur Tür trottete.
»Er riecht
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