Die Geliehene Zeit
Augenblick fehlt mir die Zeit, mich gründlicher damit zu befassen, aber irgend etwas stimmt hier nicht.« Sachte klopfte sie auf die Blätter und legte sie ordentlich zusammen. »Wirklich außergewöhnlich!«
»Können Sie herausfinden, was dieses Muster bedeutet, Mutter? Bestimmt keine leichte Aufgabe. Ich habe guten Grund zu der Annahme, daß es sich um eine verschlüsselte Botschaft in englischer Sprache handelt, obwohl die Liedtexte in Deutsch gehalten sind.«
Mutter Hildegarde blickte überrascht auf.
»In Englisch? Sind Sie sicher?«
Jamie schüttelte den Kopf. »Nein, sicher bin ich mir nicht, aber ich vermute es. Vor allem, weil die Lieder in England abgeschickt worden sind.«
»Nun, Monsieur«, entgegnete sie mit gerunzelter Stirn, »Ihre Frau spricht Englisch, nicht wahr? Sicherlich können Sie auf Ihre Gesellschaft ein wenig verzichten, damit sie mir beim Entziffern zur Seite steht, oder?«
Jamie betrachtete sie mit einem Lächeln, das dem ihren gleichkam. Dann wanderte sein Blick zu Boden, wo Boutons Barthaare bedrohlich zitterten.
»Ich biete Ihnen einen Tausch an, Mutter«, schlug er vor. »Wenn Ihr Hund mich auf meinem Weg nach draußen nicht in den Hintern beißt, überlasse ich Ihnen meine Frau.«
So ergab es sich, daß ich an jenem Abend nicht in die Rue Tremoulins zurückkehrte, sondern mit den Schwestern des Couvent des Anges im Refektorium zu Abend aϐ und anschließend Mutter Hildegarde in ihre Privaträume folgte.
Die kleine Wohnung der Mutter Oberin bestand aus drei Räumen.
Der Salon zeugte von einem gewissen Wohlstand und war zweifellos der Ort, wo sie offizielle Besucher empfing. Mit dem Anblick, den der zweite Raum bot, hatte ich allerdings nicht gerechnet. Zunächst schien das kleine Zimmer nichts anderes als ein großes Cembalo aus glänzendem Walnußholz zu enthalten, verziert mit kleinen, handgemalten Blumen und einer Weinrebe, die oberhalb des Ebenholzmanuals entsproß und sich um den gesamten Korpus des Instruments wand.
Auf den zweiten Blick entdeckte ich dann ein paar andere Möbel, einschließlich einer Bücherwand, in der sich dicht an dicht musikhistorische Bücher und handgebundene Manuskripte drängten - ähnlich jenem, das Mutter Hildegarde jetzt auf den Notenständer des Cembalos legte.
Sie schob mich zu einem Stuhl vor dem Sekretär.
»Dort finden Sie leere Blätter und Tinte, Madame. Nun wollen wir einmal sehen, was uns dieses kleine Lied zu sagen hat.«
Die Notenlinien zogen sich sauber über die gesamte Seite des Pergaments, und die Noten, Schlüssel, Pausen und Versetzungszeichen waren sorgfältig gemalt worden. Es handelte sich offensichtlich um eine endgültige Fassung und nicht um einen Entwurf oder eine hastig hingeworfene Melodie. Oben auf dem Blatt stand der Titel: »Lied des Landes.«
»Der Name läßt ahnen, daß es sich um eine schlichte Weise handelt, ähnlich einem Volkslied«, erklärte Mutter Hildegarde. »Aber damit stimmt die Kompositionsform nicht überein. Können Sie vom Blatt lesen?« Sie legte die Finger ihrer großen, groben Rechten unvermutet behutsam auf die Tasten.
Ich lehnte mich über Mutter Hildegardes Schulter und sang die ersten drei Zeilen. Plötzlich hörte sie zu spielen auf und blickte zu mir hoch.
»Das ist die Grundmelodie, die sich später in Variationen wiederholt - aber in was für welchen! Sie müssen wissen, daß mir etwas Ähnliches schon einmal untergekommen ist. Es stammte von einem alten Deutschen namens Bach; hin und wieder schickt er mir eines seiner Werke...« Flüchtig wies sie auf das Regal mit den Handschriften. »Er nennt diese kunstvollen Musikstücke ›Inventionen‹. Die Variationen erscheinen in zwei oder drei ineinander verwobenen melodischen Linien. Dies hier«, mit verächtlich geschürzten Lippen deutete sie zu dem Lied, »könnte man als eine unbeholfene
Imitation dieser Kompositionen bezeichnen. Ich könnte sogar schwören...« Murmelnd schob sie die Bank aus Walnußholz zurück, ging hinüber zu dem Regal und fuhr mit dem Finger über die Handschriftenreihen.
Sie fand das Gesuchte und kehrte mit drei gebundenen Notenheften zur Bank zurück.
»Hier sind die Stücke von Bach. Sie sind schon ein paar Jahre alt. Ich habe mich länger nicht damit beschäftigt. Trotzdem bin ich mir ziemlich sicher...« Sie verstummte und blätterte nacheinander die auf ihren Knien abgelegten Hefte durch, während sie ab und zu einen Blick auf das ›Lied‹ warf, das auf dem Notenständer des Klaviers
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