Die Geliehene Zeit
erwidern, als um ihr Lächeln zu verbergen. »Wie ich sehe, haben Sie bereits mit Bouton Bekanntschaft gemacht. Suchen Sie vielleicht Ihre Frau?«
Das war mein Stichwort, und ich trat hinter ihr aus dem Schreibzimmer. Der Blick meines ergebenen Ehemannes wanderte vom Hund zur Tür des Schreibzimmers, und offensichtlich zog er seine Schlüsse.
»Wie lange hast du schon dort gestanden, Sassenach?« fragte er trocken.
»Lange genug«, erwiderte ich mit der selbstgefälligen Sicherheit derjenigen, die in Boutons Gunst standen. »Was hättest du mit ihm gemacht, nachdem du ihn in dein Plaid eingewickelt hast?«
»Ich hätte ihn aus dem Fenster geworfen und wäre auf und davon gerannt«, antwortete er mit einem ehrfürchtigen Seitenblick auf Mutter Hildegardes imposante Gestalt. »Spricht sie zufällig Englisch?«
»Nein - zum Glück für dich!« erwiderte ich. Dann wechselte ich ins Französische über.
»Monsieur«, Mutter Hildegarde hatte ihren Sinn für Humor nun fest im Griff und begrüßte Jamie mit formidabler Leutseligkeit. »Wir lassen Ihre Frau ungern gehen, aber wenn Sie sie brauchen...«
»Ich bin nicht wegen meiner Frau hier«, unterbrach Jamie sie. »Ich wollte zu Ihnen, ma mere .«
Nachdem Jamie in Mutter Hildegardes Schreibzimmer Platz genommen hatte, legte er die mitgebrachten Papiere auf den blankpolierten Tisch. Bouton ließ sich zu Füßen seiner Herrin nieder und legte die Schnauze auf die Pfoten. Er hielt die Ohren wachsam gespitzt, falls er doch noch den Befehl erhalten sollte, dem Besucher das Fleisch von den Knochen zu reißen.
Jamie blickte mit zusammengekniffenen Augen auf Bouton und zog die Füße außer Reichweite der witternden schwarzen Nase. »Herr Gerstmann hat mir empfohlen, Sie wegen dieser Dokumente hier um Rat zu fragen, Mutter«, setzte er an, während er das dicke Bündel auseinanderrollte und glattstrich.
Mit hochgezogenen Brauen ließ Mutter Hildegarde den Blick auf Jamie ruhen, bevor sie sich den Papieren zuwandte. Wie viele Menschen in verantwortungsvollen Positionen besaß auch sie die Fähigkeit, sich der vorliegenden Angelegenheit scheinbar völlig konzentriert zu widmen, sich gleichzeitig aber nicht das geringste Anzeichen, das von einem Notfall im Hause künden würde, entgehen zu lassen.
»Nun?« fragte sie. Mit ihrem eckigen Finger verfolgte sie die festgehaltene Melodie Note für Note, als würde sie sie durch die Berührung hören.
»Was möchten Sie wissen, Monsieur Fraser?« erkundigte sie sich.
»Ich bin mir nicht sicher, Mutter.« Neugierig beugte Jamie sich vor und strich nachdenklich über die schwarzen Linien. Die Finger ließ er dort ruhen, wo die Hand des Schreibers die Zeilen verschmiert hatte, bevor die Tinte getrocknet war.
»Irgend etwas ist eigenartig an dieser Melodie, Mutter.«
Der große Mund der Nonne verzog sich wie zu einem Lächeln.
»Tatsächlich, Monsieur Fraser? Und doch habe ich gehört - bitte nehmen Sie es mir nicht übel -, daß Musik für Sie ein Buch mit sieben Siegeln ist.« Jamie lachte auf, und eine Schwester, die gerade vorbeikam, wandte sich erschreckt um. Im Spital war es zwar laut, aber gelacht wurde dort recht selten.
»Das ist eine sehr taktvolle Umschreibung, Mutter. Und eine sehr zutreffende. Wenn Sie eines dieser Stücke singen würden«, er klopfte leicht auf das zart raschelnde Pergament, »könnte ich die Melodie nicht vom Kyrie eleison oder La Dame fait bien unterscheiden - den Text allerdings schon«, fügte er grinsend hinzu.
Mutter Hildegarde lachte. »Nun, Monsieur Fraser«, erwiderte sie, »wenigstens lauschen Sie den Worten!« Sie nahm die Blätter. Ich sah, wie der untere Teil ihres Kragensaums leicht zitterte, als würde sie im stillen singen. Dabei schlug sie mit einem ihrer großen Füße den Takt.
Jamie verharrte schweigend auf seinem Hocker, betrachtete
Mutter Hildegarde aufmerksam und ließ sich von dem Lärm auf den Gängen des Spitals in keiner Weise ablenken. Patienten schrien, Pfleger und Nonnen riefen sich Anweisungen zu, Familienangehörige schluchzten vor Sorge oder Bekümmerung, und die altehrwürdigen Mauern des Gebäudes hallten von den gedämpften Geräuschen der metallenen Instrumente wider - doch weder Jamie noch Mutter Hildegarde ließen sich stören.
Schließlich senkte die Nonne die Blätter und blickte über den Rand des Papiers zu Jamie hinüber. Ihre Augen strahlten, und plötzlich wirkte sie wie ein junges Mädchen.
»Ich glaube, Sie haben recht«, bemerkte sie. »Im
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