Die Geliehene Zeit
lehnte.
»Ha!« Triumphierend hielt sie mir ein Musikstück entgegen. »Sehen Sie das hier?«
Die Seite trug die unleserlich hingeworfene Überschrift Goldberg-Variationen. Ehrfürchtig berührte ich das Notenblatt, schluckte schwer und lenkte den Blick wieder auf das ›Lied‹. Fast sofort erkannte ich, was Mutter Hildegarde gemeint hatte.
»Sie haben recht, die gleiche Melodie!« rief ich aus. »Hier und da eine andere Note, aber im Grunde ist es das Thema von Bach. Wirklich eigenartig!«
»Nicht wahr?« fiel sie höchst befriedigt ein. »Bleibt die Frage, warum unser anonymer Komponist Melodien stiehlt und sich ihrer auf so seltsame Weise bedient.«
Da diese Frage offensichtlich rhetorisch gemeint war, antwortete ich mit einer Gegenfrage.
»Ist Bachs Musik zur Zeit sehr beliebt, Mutter?« Ich konnte mich nicht erinnern, in den Salons etwas von ihm gehört zu haben.
»Nein«, antwortete sie kopfschüttelnd und blickte auf die Komposition. »In Frankreich ist er nicht sonderlich bekannt. Ich glaube, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren genoß er in Deutschland und Österreich ein gewisses Ansehen, aber selbst dort wird seine Musik nur selten öffentlich aufgeführt. Ich fürchte, daß seine Kompositionen nicht von Dauer sein werden; sie sind klug, aber ohne Herz. - Hmm, sehen Sie das hier?« Ihr kräftiger Zeigefinger tippte mal hierhin, mal dorthin, während sie geschwind die Seiten umblätterte.
»Die Melodie kehrt ständig wieder, jedoch immer in einer anderen Tonart. Vermutlich war es das, was Ihrem Mann ins Auge
gestochen ist. Selbst jemandem, der keine Noten lesen kann, muß der dauernde Vorzeichenwechsel auffallen.«
Das stimmte: jeder Tonartwechsel war mit einem senkrechten Doppelstrich, einem neuen Violinschlüssel und den entsprechenden Vorzeichen kenntlich gemacht.
»Fünf verschiedene Tonarten in einem so kurzen Stück«, bemerkte sie und klopfte zur Bekräftigung erneut auf die Handschrift. »Und Veränderungen, die in musikalischer Hinsicht keinerlei Sinn machen. Schauen Sie, die Grundmelodie bleibt die gleiche, aber wir bewegen uns von der Tonart B-Dur mit zwei b zu A-Dur mit drei Kreuzen. Noch seltsamer ist es hier: Da schreibt er zwei Kreuze vor, erhöht darüber hinaus aber noch jedes einzelne g zum Gis.«
»Eigentümlich«, pflichtete ich ihr bei. Aufgrund des individuell gesetzten Gis war der Abschnitt in D-Dur identisch mit den A-Dur-Takten. Mit anderen Worten, es gab eigentlich keinen Grund, die Tonart zu wechseln.
»Ich kann kein Deutsch«, sagte ich. »Verstehen Sie den Sinn der Worte, Mutter?«
Bei ihrem Nicken raschelten die Falten ihres schwarzen Schleiers. Konzentriert blickte sie auf das Blatt.
»Ein abscheulicher Text«, murmelte sie leise. »Nicht, daß man von den Deutschen große Dichtkunst erwartet, aber dies hier... wirklich...« Sie brach ab. »Wenn die Vermutung Ihres Mannes stimmt und es sich um einen verschlüsselten Text handelt, muß die Nachricht in den Worten liegen. Daher werden sie selbst nicht sonderlich viel Bedeutung haben.«
»Wie lautet der Text?« wollte ich wissen.
»›Meine Schäferin tollt mit den Lämmlein durch die grünen Hügel‹«, übersetzte sie. »Entsetzlicher Stil. Aber mit der Grammatik wird in Liedtexten oft recht frei umgegangen, wenn der Dichter unbedingt möchte, daß sich die Zeilen reimen. Und das ist bei Liebesliedern fast immer der Fall.«
»Kennen Sie viele Liebeslieder?« fragte ich neugierig. Mutter Hildegarde war heute abend voller Überraschungen.
»Jedes gute Musikstück ist seinem Wesen nach ein Liebeslied«, entgegnete sie sachlich. »Aber was Ihre Frage betrifft - ja, ich kenne viele. Als junges Mädchen«, sie lächelte, da sie wußte, wie schwer es mir fallen mußte, sie sich als Kind vorzustellen,
»war ich so etwas wie ein Wunderkind, müssen Sie wissen. Alles, was ich gehört hatte, konnte ich aus dem Gedächtnis nachspielen, und mit sieben habe ich mein erstes Stück komponiert.« Sie deutete auf das Cembalo mit der glänzenden Oberfläche.
»Meine Familie ist wohlhabend, und wenn ich als Knabe zur Welt gekommen wäre, hätte ich zweifellos den Beruf des Musikers gewählt.« Sie sagte das schlicht, ohne jede Spur von Bedauern.
»Aber hätten Sie nicht auch als verheiratete Frau komponieren können?« fragte ich neugierig.
Mutter Hildegarde breitete die Hände aus.
»Es war wohl die Schuld des heiligen Anselm«, meinte sie, nachdem sie eine Weile über meine Frage sinniert hatte.
»Wirklich?«
Mein
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