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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Erstaunen entlockte ihrem häßlichen Gesicht ein Lächeln, wodurch ihre Züge weicher wirkten.
    »Ja. Mein Pate - der ehemalige Sonnenkönig«, fügte sie wie beiläufig hinzu, »schenkte mir zu meinem achten Namenstag ein Buch mit den Lebensbeschreibungen von Heiligen. Ein wunderschöner Band«, erinnerte sie sich, »mit Goldschnitt und edelsteinbesetzten Buchdeckeln. Eher als Kunstwerk gedacht denn als Lektüre. Trotzdem las ich es. Zwar fand ich an allen Geschichten Gefallen - insbesondere an denen über die Märtyrer -, aber im Lebenslauf des heiligen Anselm gab es einen Satz, der etwas in meinem Innersten berührte.«
    Sie schloß die Augen und lehnte sich zurück.
    »St. Anselm war ein weiser und gebildeter Mann, ein Doktor der Theologie. Gleichzeitig diente er als Bischof und nahm sich seiner Schäfchen und ihrer Wünsche und Seelennöte an. In dem Buch wurde ausführlich über seine guten Taten erzählt, und die Geschichte endete mit den Worten: ›Bei seinem Tode konnte er auf ein erfülltes Leben im Dienste seiner Nächsten zurückblicken, und so war ihm als Lohn das Paradies beschieden.‹« Sie hielt inne und verschränkte ihre Hände locker über den Knien.
    »Die Worte ›ein erfülltes Leben im Dienste seiner Nächsten< waren es, die mich nicht mehr losließen.« Sie lächelte mich an. »Ich könnte mir weitaus schlimmere Grabinschriften vorstellen, Madame.« Unvermittelt hob sie die Arme und zuckte die Achseln - eine seltsam graziöse Geste.
    »Ich wollte auch ein erfülltes Leben führen.« Mit dieser knappen
Erklärung beendete sie die kurze Abschweifung und wandte sich wieder den Noten auf dem Notenständer zu.
    »Also, der Wechsel der Tonarten - das ist das Seltsame daran. Wie sollen wir das verstehen?«
    Unwillkürlich entfuhr mir ein Schrei. Da wir uns die ganze Zeit auf französisch unterhalten hatten, war es mir bisher nicht aufgefallen. Aber während Mutter Hildegarde ihre Geschichte erzählte, hatte ich englisch mitgedacht, und als ich nun wieder auf die Noten blickte, traf es mich wie ein Blitz.
    »Der Schlüssel!« rief ich halb lachend. »Der Schlüssel. Zu dem Rätsel! Tonart heißt auf englisch key. Aber das Wort für den Gegenstand, mit dem man etwas aufsperrt...« Ich deutete auf den großen Schlüsselbund, den Mutter Hildegarde normalerweise am Gürtel trug, jedoch bei Betreten des Zimmers auf dem Bücherregal abgelegt hatte.
    » Ma mère , im Englischen tragen diese Begriffe dieselben Namen. key bedeutet Tonart und Schlüssel. Und die Tonart ist der Schlüssel zu unserem Rätsel. - Jamie«, fügte ich hinzu, »hat ja gesagt, daß ein Engländer den Text verschlüsselt hat - und der muß einen wahrhaft diabolischen Sinn für Humor haben.«
    Diese Erkenntnis brachte uns der Lösung näher. Wenn es sich um einen englischen Autor handelte, hatte er die Nachricht vermutlich auch auf englisch verfaßt und den deutschen Text nur als Buchstabenquelle verwendet. Da ich Jamie bereits beim Experimentieren mit Alphabet und Buchstaben beobachtet hatte, bedurfte es nur weniger Versuche, das Muster zu entdecken.
    »Zwei b heißt, daß man vom Beginn des Abschnitts an jeden zweiten Buchstaben nehmen muß«, stellte ich fest und schrieb das Ergebnis eifrig nieder. »Und bei drei Kreuzen jeden dritten Buchstaben vom Ende des Abschnitts an. Wahrscheinlich hat sich der Verfasser der deutschen Sprache bedient, um den Sinn des Textes zu verschleiern. Um das gleiche auszudrücken, benötigt man fast doppelt so viele Wörter wie im Englischen.«
    »Sie haben Tinte an der Nase«, stellte Mutter Hildegarde fest, bevor sie mir über die Schulter blickte. »Ergibt es einen Sinn?«
    »Ja«, erwiderte ich. Mein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. »Ja, es ergibt einen Sinn.«
    Die entschlüsselte Nachricht war kurz, unmißverständlich und äußerst beunruhigend.

    »›Die treuen englischen Untertanen Seiner Majestät erwarten seine rechtmäßige Wiedereinsetzung. Fünfzigtausend Pfund stehen Euch zur Verfügung, sobald Eure Hoheit englischen Boden betreten‹«, las ich laut. »Ein Buchstabe, ein S, bleibt übrig. Es ist mir nicht klar, ob dieses S so etwas wie eine Unterschrift ist, oder ob es nur für die deutsche Wortendung notwendig war.«
    »Hm.« Mutter Hildegarde blickte erst neugierig auf die Nachricht, dann auf mich. »Sie wissen es wahrscheinlich schon«, meinte sie kopfnickend, »aber Sie können Ihrem Mann versichern, daß ich nichts weitererzählen werde.«
    »Er hätte Sie nicht um Hilfe

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