Die Geliehene Zeit
von Charles’ Ankunft in Frankreich. Und da sie entweder verschlüsselt oder sehr vorsichtig formuliert waren, ließen sie viele Fragen offen. Aber letztlich deutete alles in ein und dieselbe Richtung.
Wenn Jamie die Absichten des Chevalier also richtig einschätzte, hatte sich unsere Aufgabe bereits erledigt, hatte eigentlich nie existiert.
Da meine Gedanken unablässig um die Ereignisse der vergangenen Nacht kreisten, war ich am darauffolgenden Tag sehr zerstreut - angefangen von einer Dichterlesung im Haus von Marie d’Arbanville über den Besuch bei einem Kräutersammler aus der Nachbarschaft, bei dem ich ein wenig Baldrian und Iriswurzel erwarb, bis zu meinen Pflichten im Hôpital des Anges.
Schließlich ließ ich die Arbeit ruhen, denn ich befürchtete, jemandem Schaden zuzufügen, während ich so vor mich hinträumte. Ich schlüpfte aus meinem Kittel, und da weder Murtagh noch Fergus erschienen waren, um mich nach Hause zu begleiten, wartete ich in Schwester Hildegardes Schreibzimmer im Vestibül des Spitals.
Nachdem ich ungefähr eine halbe Stunde lang gelangweilt den Stoff meines Kleides gefältet hatte, hörte ich, wie draußen der Hund anschlug.
Der Pförtner war - wie so oft - nicht da. Gewiß besorgte er sich gerade etwas zu essen, oder er erledigte einen Botengang für die Nonnen. Und wie immer hatte man die Bewachung des Portals während seiner Abwesenheit in Boutons Pfoten - und Zähne - gelegt.
Dem ersten kurzen Kläffer folgte ein tiefes, verhaltenes Knurren, das den Eindringling warnte, keinen Schritt mehr zu tun, wollte er nicht unverzüglich zerfleischt werden. Ich steckte den Kopf aus der Türe, um zu sehen, ob Vater Balmain im Interesse seiner frommen Pflichten erneut den Gefahren des Dämons trotzte. Doch bei der Figur, die sich vor dem großen Buntglasfenster der Eingangshalle
abzeichnete, handelte es sich nicht um den zarten jungen Priester. Ein Kilt umspielte graziös die Beine des hochgewachsenen Mannes, als er vor dem kleinen zähnebleckenden Untier zu seinen Füßen zurückwich.
Überrumpelt von dem Angriff, kniff Jamie die Augen zusammen. Er beschattete sie vor dem grellen Sonnenlicht, das das Fenster zurückwarf, und blickte suchend in den Schatten.
»Hallo, kleiner Hund«, grüßte er höflich, während er sich mit ausgestreckter Hand einen Schritt vorantastete. Bouton verstärkte sein Knurren um einige Grade, so daß Jamie abermals zurückwich.
»Aha, daher weht der Wind!« Mit zusammengekniffenen Augen sah er den Hund an.
»Denk noch mal drüber nach, Bursche. Ich bin doch um etliches größer. Wenn ich du wäre, würde ich mich auf keine voreiligen Abenteuer einlassen.«
Bouton rutschte zwar ein Stückchen nach hinten, gab aber immer noch Geräusche wie eine entfernte Fokker von sich.
»Schneller«, fügte Jamie hinzu und machte einen Ausfall. Als Boutons Zähne seine Wade um Haaresbreite verfehlten, trat er hastig zurück, lehnte sich mit verschränkten Armen an die Mauer und nickte dem Hund zu.
»Zugegeben, du bist mir überlegen. Wenn Zähne ins Spiel kommen, habe ich keine Chance!« Bouton vernahm diese eleganten Worte mit mißtrauisch aufgestelltem Ohr, knurrte aber etwas verhaltener.
Jamie schlug einen Fuß über den anderen, wie jemand, der den lieben langen Tag vertrödeln möchte. »Gewiß hast du Besseres zu tun, als unschuldige Besucher zu bedrängen«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Ich habe bereits von dir gehört - du bist doch der berühmte Kerl, der Krankheiten erschnüffelt, nicht wahr? Also, weshalb vertrödelst du deine Zeit damit, Türen zu bewachen, wenn du dich doch viel nützlicher machen kannst, indem du Gichtzehen und vereiterte Arschlöcher beschnoberst? Das beantworte mir mal.«
Doch mehr als einen scharfen Kläffer erntete er nicht, als er seine überkreuzten Füße löste.
Mit raschelndem Gewand trat Mutter Hildegarde hinter mich.
»Was gibt es?« erkundigte sie sich, als sie sah, wie ich um die Ecke lugte. »Haben wir Besuch?«
»Bouton hat offensichtlich eine Meinungsverschiedenheit mit meinem Mann«, entgegnete ich.
»Das muß ich mir von dir nicht bieten lassen, verstehst du!« drohte Jamie währenddessen. »Ich brauche bloß mein Plaid über dich werfen, und schon sitzt du in der Falle wie ein... Oh, bonjour , Madame!« Flink wechselte er beim Anblick von Mutter Hildegarde ins Französische.
» Bonjour , Monsieur Fräser!« Mit einer anmutigen Geste neigte sie den Kopf, vermutlich weniger, um seinen Gruß zu
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