Die Geliehene Zeit
hätte heben können - fest verschlossen waren.
»Sie sollten sich ausruhen, Madame«, sagte er. »Keine Sorge, ich bin ja da.«
Ich lachte nicht, lächelte ihn aber an. »Jetzt könnte ich nicht schlafen, Fergus. Ich bleibe einfach noch eine Weile hier sitzen. Aber vielleicht gehst du besser ins Bett. Du hast eine schrecklich lange Nacht hinter dir.« Es widerstrebte mir, ihn ins Bett zu schikken, da ich seiner neugewonnenen Würde als stellvertretender Hausherr keinen Abbruch tun wollte, doch seine Erschöpfung war nicht zu übersehen. Er ließ die zarten, knochigen Schultern hängen, und unter den Augen hatte er dunkle Ringe.
Fergus gähnte schamlos, schüttelte aber den Kopf. »Nein, Madame. Ich bleibe bei Ihnen... wenn Sie es erlauben.« fügte er hastig hinzu.
»Ich habe nichts dagegen.« Offenbar war er zu müde, um zu plaudern oder in gewohnter Weise herumzuzappeln, und die Gesellschaft eines schläfrigen Kindes hatte etwas Tröstliches, so wie die Anwesenheit eines Hundes oder einer Katze.
Ich starrte ins Kaminfeuer und versuchte, eine heiter-gelassene Gemütsverfassung heraufzubeschwören; ich stellte mir stille Seen, Waldlichtungen, selbst den düsteren Frieden einer Kapelle vor. Aber es half alles nichts, über die Bilder des Friedens legten sich die Eindrücke des vergangenen Abends: brutale Hände, weißschimmernde Zähne, die furchterregend aus der Dunkelheit auftauchten; Marys bleiches, verzweifeltes Gesicht neben dem von Alex Randall; die haßerfüllten Schweinsaugen von Mr. Hawkins; das plötzliche Mißtrauen in den Zügen des Generals und der Duverneys; St. Germains unverhohlene Freude über den Skandal. Und zuletzt Jamies Lächeln, halb selbstbewußt, halb unsicher im Licht- und Schattenspiel der Laternen.
Was, wenn er nicht wiederkam? Das war der Gedanke, den ich zu unterdrücken versuchte, seit sie ihn abgeführt hatten. Wenn es ihm nicht gelang, sich von den Anschuldigungen reinzuwaschen? Wenn der Richter Vorbehalte gegen Ausländer hatte - mehr Vorbehalte als üblich, verbesserte ich mich -, dann konnte er leicht auf unbegrenzte Zeit in Gewahrsam genommen werden. Und die Furcht, daß diese unvorhergesehene Krise die Arbeit von Wochen zunichte machte, wurde überlagert von der Vorstellung, wie Jamie in einer
Zelle lag, ähnlich jener in Wentworth. Angesichts der gegenwärtigen Krise erschien die Nachricht, daß Charles Stuart in Wein investierte, unbedeutend.
In meiner Einsamkeit hatte ich nun genug Zeit zum Nachdenken, doch meine Gedanken drehten sich im Kreis. Wer war » La Dame Blanche «? Was hatte es mit der »weißen Dame« auf sich, und warum hatten die Angreifer bei der Nennung ihres Namens die Flucht ergriffen?
Dann wanderten meine Gedanken zu der Abendgesellschaft und den Bemerkungen des Generals über die Banden, die die Straßen von Paris unsicher machten und denen teilweise auch Adelige angehörten. Das paßte zu der Sprache und Kleidung des Anführers, obwohl seine Gefährten erheblich rauher ausgesehen hatten. Ich überlegte, ob der Mann Ähnlichkeit mit jemandem hatte, den ich kannte, doch ich sah ihn nur undeutlich vor mir - es war dunkel gewesen, und die Erinnerung war durch den Schock getrübt.
Insgesamt hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Comte de St. Germain, obwohl die Stimme anders war. Doch wenn der Comte beteiligt war, hätte er dann nicht seine Stimme verstellt? Zugleich fand ich es völlig unglaublich, daß der Comte imstande sein könnte, uns erst zu überfallen und mir dann zwei Stunden später am Tisch gegenüberzusitzen und in aller Seelenruhe seine Suppe zu löffeln.
Niedergeschlagen fuhr ich mir durchs Haar. Jetzt konnte ich nichts unternehmen. Wenn Jamie am Morgen noch nicht zurück war, dann konnte ich der Reihe nach Bekannte und mutmaßliche Freunde aufsuchen; vielleicht wußte einer von ihnen Neuigkeiten oder bot seine Hilfe an. Aber während der Nachtstunden war ich machtlos, bewegungsunfähig wie eine in Bernstein gefangene Libelle.
Ungeduldig zerrte ich an einer der mit Brillanten besetzten Haarnadeln. Sie hatte sich in meinen Haaren verfangen und wollte sich nicht lösen.
»Autsch!«
»Warten Sie, Madame. Ich hol’ sie heraus.«
Ich hatte nicht gehört, wie er hinter mich getreten war, aber ich spürte Fergus’ schmale, geschickte Finger an meinem Kopf, die den Haarschmuck herauszogen. »Die anderen auch, Madame?«
»O danke, Fergus«, sagte ich erleichtert. »Wenn es dir nichts ausmacht.«
Leicht und sicher war die kleine Hand
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