Die Geliehene Zeit
Randall als einer der Angeklagten wohl kaum als unparteiischer Zeuge vernommen werden könne. Ebensowenig ich als Ehefrau und mögliche Komplizin des anderen Angeklagten. Murtagh war seiner eigenen Aussage zufolge zur Zeit des angeblichen Überfalls besinnungslos gewesen, und das Kind Claudel wurde als Zeuge nicht zugelassen.
Offensichtlich, so erklärte der Richter mit einem zornigen Seitenblick auf den Hauptmann der Garde, war die einzige Person, die Licht in die Sache bringen konnte, Mary Hawkins. Doch den Aussagen zufolge sei sie im Augenblick nicht dazu imstande. Aus diesem Grunde sollten alle Beschuldigten in der Bastille unter Gewahrsam genommen werden, bis Mademoiselle Hawkins vernehmungsfähig sei. Und gewiß hätte Monsieur le Capitaine sich das eigentlich selbst denken können, nicht wahr?
»Und warum bist du jetzt nicht in der Bastille?« fragte ich.
»Monsieur Duverney, der Ältere, hat sich für mich verbürgt«, erwiderte Jamie und zog mich aufs Sofa neben sich. »Während des ganzen Palavers saß er in einer Ecke, eingerollt wie ein Igel. Und als der Richter seine Entscheidung fällte, stand er auf und sagte, er habe Gelegenheit gehabt, mehrmals mit mir Schach zu spielen. Dabei habe er einen so günstigen Eindruck von meinen moralischen Grundsätzen gewonnen, daß ich an einer so verwerflichen Tat keinen Anteil haben könne...« Er hielt inne und zuckte die Achseln.
»Na ja, du weißt ja, wie er spricht, wenn er richtig loslegt. Der Grundgedanke war, daß ein Mann, der ihn bei sechs von sieben Schachpartien besiegt, keine jungen unschuldigen Mädchen in sein Haus lockt, um sie zu schänden.«
»Vollkommen logisch«, bemerkte ich trocken. »Ich glaube, was er wirklich sagen wollte, war, wenn sie dich einsperren, verliert er seinen Schachpartner.«
»Gut möglich«, stimmte Jamie zu. Er reckte sich, gähnte und zwinkerte mir vergnügt zu.
»Aber ich bin daheim, und gerade jetzt ist es mir einerlei, warum. Komm her zu mir, Sassenach.« Er faßte mich mit beiden Händen um die Taille, hob mich auf seinen Schoß und umarmte mich, zufrieden seufzend.
»Alles, was ich will«, flüsterte er mir ins Ohr, »ist, diese verdreckten Sachen ausziehen und dich hier auf dem Kaminvorleger nehmen, dann sofort einschlafen, den Kopf auf deine Schulter gebettet, und bis morgen so liegen bleiben.«
»Ziemlich lästig für die Dienerschaft«, bemerkte ich, »sie werden um uns herumfegen müssen.«
»Ich pfeif’ auf die Dienerschaft«, meinte er gelassen. »Wozu gibt es Türen?«
»Offensichtlich, um daran anzuklopfen«, sagte ich, da ein vorsichtiges Pochen zu hören war.
Jamie vergrub die Nase in meinen Haaren, zögerte einen Augenblick, dann seufzte er und ließ mich von seinem Schoß aufs Sofa gleiten.
»Dreißig Sekunden«, versprach er mir mit gedämpfer Stimme, dann rief er: » Entrez! «
Die Tür ging auf, und Murtagh trat ein. In der Unruhe und dem Durcheinander der vergangenen Nacht hatte ich Murtagh fast vergessen. Nun stellte ich fest, daß seine Erscheinung nicht gerade gewonnen hatte.
Er litt ebenso unter Schlafmangel wie Jamie. Sein eines Auge war blutunterlaufen, das andere hatte die Tönung einer faulen Banane angenommen und war - bis auf einen schmalen Schlitz, aus dem es schwarz blitzte - zugeschwollen. Die Beule auf seiner Stirn kam neun voll zur Geltung: ein dunkelrotes Gänseei direkt über der Braue.
Seit seiner Befreiung aus dem Sack hatte Murtagh kaum ein Wort gesagt. Abgesehen von einer knappen Frage nach dem Verbleib seiner Messer - Fergus hatte mit dem Spürsinn eines Terriers sowohl den Dolch als auch den sgian dhu hinter einem Haufen Unrat entdeckt - hatte er in den kritischen Augenblicken unserer Flucht grimmig geschwiegen und uns, während wir durch die düsteren Straßen von Paris eilten, den Rücken gedeckt. Zu Hause angekommen, hatte ein stechender Blick aus seinem gesunden Auge genügt, um unliebsame Fragen der Küchenmägde zu unterbinden.
Vermutlich hatte er sich auf dem commissariat de police zu Wort gemeldet, wenn auch nur, um den tadellosen Charakter seines Arbeitgebers zu bezeugen - allerdings fragte ich mich, wieviel Glauben ich Murtagh geschenkt hätte, wenn ich der Richter gewesen wäre. Aber jetzt war er ebenso schweigsam wie die Wasserspeier von Notre Dame - denen er erstaunlich ähnlich sah.
Doch ganz gleich, wie heruntergekommen er aussehen mochte, Murtagh bewahrte stets eine würdevolle Haltung. Steif wie ein Stock schritt er über den Teppich und kniete
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