Die Geliehene Zeit
wohl kaum beklagen«, meinte ich schließlich. »Denn mit der Geschichte hast du nicht nur deine Tugend verteidigt, sondern auch eine Vergewaltigung verhindert.«
»Aye, Gott sei Dank.« Er legte das Brot weg und nahm meine Hand. »Wenn dir etwas geschehen wäre, Sassenach, dann würde ich -«
»Ja«, fiel ich ihm ins Wort, »aber wenn die Männer, die uns angegriffen haben, wußten, daß ich La Dame Blanche sein soll...«
»Aye, Sassenach«, nickte er mir zu. »Glengarry und Castellotti können es nicht gewesen sein, denn als du überfallen wurdest, waren sie mit mir in dem Haus, aus dem mich Fergus geholt hat. Aber es muß jemand gewesen sein, dem sie davon erzählt haben.«
Bei der Erinnerung an die Maske und die höhnische Stimme lief es mir kalt den Rücken hinunter.
Seufzend ließ Jamie meine Hand los. »Und das heißt vermutlich, daß ich Glengarry aufsuchen sollte, um herauszufinden, wie vielen Leuten er Geschichten über mein Eheleben aufgetischt hat.« Ärgerlich fuhr er sich durch die Haare. »Und dann muß ich Seiner Hoheit einen Besuch abstatten und feststellen, was er bei diesem Geschäft mit St. Germain im Schilde führt.«
»Du hast recht«, sagte ich nachdenklich, »aber so wie ich Glengarry kenne, hat er es inzwischen halb Paris erzählt. Übrigens habe ich heute nachmittag auch einige Besuche zu machen.«
»Ach ja? Und wen gedenkst du zu beehren, Sassenach?«« fragte er und beäugte mich skeptisch. Ich holte tief Luft und nahm meinen Mut zusammen angesichts der Prüfung, die mir bevorstand.
»Zuerst Maître Raymond«, erwiderte ich. »Und dann Mary Hawkins.«
»Lavendel vielleicht?« Raymond stellte sich auf Zehenspitzen, um ein Gefäß aus dem Regal zu holen. »Nicht als Heilmittel, aber das Aroma beruhigt die Nerven.«
»Das hängt davon ab, um wessen Nerven es sich handelt«, entgegnete ich, da mir Jamies Reaktion auf Lavendel einfiel. Es war Jack Randalls Lieblingsduft, und auf Jamie wirkte das Aroma alles andere als beruhigend. »In diesem Fall könnte es jedoch helfen. Oder zumindest keinen Schaden anrichten.«
»Keinen Schaden anrichten«, zitierte er nachdenklich. »Ein guter Grundsatz.«
»Dieser Grundsatz ist Teil des Hippokratischen Eids.« Ich beobachtete, wie er in seinen Schubladen und Dosen stöberte. »Der Eid, den ein Arzt schwört. >Ich werde die Kranken bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht.«
»Aha? Und haben Sie diesen Eid abgelegt, Madonna?« Die klugen Amphibienaugen zwinkerten mir über den hohen Tresen hinweg zu.
Ich spürte, wie ich unter seinem forschenden Blick errötete.
»Nein, eigentlich nicht. Ich bin keine richtige Ärztin. Noch nicht.« Mir war schleierhaft, was mich bewegt hatte, letzteres hinzuzufügen.
»Nein? Und doch versuchen Sie etwas zu heilen, an das sich ein ›richtiger‹ Arzt nicht heranwagen würde, weil er weiß, daß die verlorene Jungfräulichkeit nicht wiederherstellbar ist.« Die Ironie seiner Worte war nicht zu überhören.
»Ach, tatsächlich nicht?« antwortete ich ungerührt. Fergus hatte einige Geheimnisse der »Damen« im Haus von Madame Elise ausgeplaudert. »Was hat es dann mit der Ferkelblase voll Hühnerblut auf sich? Oder wollen Sie behaupten, daß derartiges in den Fachbereich des Apothekers fällt und nicht in den des Arztes?«
Raymond besaß zwar keine nennenswerten Augenbrauen, aber er konnte beeindruckend die Stirn kräuseln, wenn er belustigt war.
»Wem geschieht dadurch Unrecht, Madonna? Gewiß nicht dem Anbieter. Und auch nicht dem Käufer. Wahrscheinlich amüsiert er sich sogar besser als einer, der die unverfälschte Ware erwirbt. Nicht einmal der Jungfräulichkeit selbst geschieht Unrecht! Zweifelsfrei ein hochmoralisches hippokratisches Unterfangen, das jeder Arzt mit Freuden unterstützen würde!««
Ich lachte. »Und ich vermute, Sie kennen mehr als einen, der das tut?« sagte ich. »Ich werde die Angelegenheit beim nächsten Ärztekongreß zur Sprache bringen. Aber was können wir einstweilen tun, ohne auf Wunder von Menschenhand zurückzugreifen?«
»Hm.« Er breitete ein Gazetuch auf dem Tresen aus und schüttete eine Handvoll fein zerstoßener Kräuter darauf. Ein durchdringender, angenehmer Duft stieg von den getrockneten graugrünen Pflanzenteilchen auf.
»Das ist Jakobskraut«, sagte er und faltete die Gaze geschickt zu einem kleinen Quadrat mit eingesteckten Ecken. »Damit behandelt man Hautreizungen, Kratzwunden und Entzündungen der Geschlechtsteile. Wäre das
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