Die Geliehene Zeit
zweckdienlich?«
»Das kann man wohl sagen«, entgegnete ich grimmig. »Als Aufguß oder Absud?«
»Absud. Warm, unter den gegeben Umständen.« Er ging zu einem anderen Regal und holte eines der großen weißen Porzellangefäße heraus. Die Beschriftung auf der Seite lautete CHELIDO-NIUM.
»Ein Schlafmittel«, erklärte er. »Ich glaube, auf Opium-Mohn-Derivate sollten Sie lieber verzichten. Diese Patientin reagiert offenbar unberechenbar darauf.«
»Sie haben die Geschichte schon gehört, nicht wahr?« sagte ich resigniert. Das war zu erwarten gewesen. Schließlich zählten Neuigkeiten zu den wichtigeren Waren, mit denen Maitre Raymond handelte. In dem kleinen Geschäft liefen die Fäden zusammen, und sein Inhaber wurde von Dutzenden von Informanten - vom Straßenhändler bis zum königlichen Kammerjunker - mit Klatsch versorgt.
»Aus drei verschiedenen Quellen«, erwiderte Raymond. Er sah aus dem Fenster und reckte den Hals, um einen Blick auf die riesige horloge werfen zu können, die an der Wand des benachbarten
Eckhauses hing. »Und es ist noch nicht einmal zwei Uhr. Wahrscheinlich werde ich, bevor es Abend wird, noch mehrere Versionen der Ereignisse bei Ihrer Abendgesellschaft hören.« Aus dem breiten, zahnlosen Mund kam ein leises Lachen. »Besonders gut gefällt mir die Version, in der Ihr Gemahl General d’Arbanville zu einem Duell auf der Straße auffordert, während Sie dem Comte anbieten, seine Lust an dem ohnmächtigen Mädchen zu stillen, sofern er darauf verzichtet, die Leibgarde des Königs zu rufen.«
»Mmmpf«, sagte ich, eine befangene Nachahmung des schottischen Urlauts.
»Würden Sie vielleicht gern erfahren, was wirklich geschehen ist?«
Das Mohntonikum schimmerte bernsteinfarben in der Nachmittagssonne, als er es in ein kleines Fläschchen goß.
»Die Wahrheit ist immer nützlich, Madonna«, erwiderte er, den Blick auf das Rinnsal gerichtet. »Denn sie hat Seltenheitswert.« Behutsam setzte er das Porzellangefäß ab. »Und daher ist sie ihren Preis wert.« Das Geld für die Arzneimittel, die ich gekauft hatte, lag auf dem Ladentisch. Die Münzen funkelten in der Sonne. Ich blickte ihn aus schmalen Augen an, doch er lächelte nur höflich, als hätte er noch nie von Froschschenkeln in Knoblauchbutter gehört.
Draußen auf der Straße schlug die horloge zwei. Ich berechnete die Entfernung zum Haus der Hawkins’ in der Rue Malory. Eine knappe halbe Stunde, wenn ich eine Droschke bekam. Also blieb mir noch Zeit genug.
»In diesem Fall«, sagte ich, »sollten wir uns vielleicht in Ihren Arbeitsraum zurückziehen.«
»Und das war’s«, erklärte ich, während ich genüßlich an meinem Kirschlikör nippte. Die Gerüche in dem Arbeitsraum waren fast so intensiv wie der Dunst, der aus meinem Glas aufstieg, und ich spürte, wie mein Kopf unter dem Einfluß des Alkohols anschwoll wie ein großer roter Luftballon. »Man hat Jamie zwar entlassen, aber wir stehen noch unter Verdacht. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, daß das von langer Dauer sein wird, Sie etwa?«
Raymond schüttelte den Kopf. Das Krokodil an der Decke bewegte sich im Luftzug. Er stand auf, um das Fenster zu schließen.
»Nein. Ein Ärgernis, weiter nichts. Monsieur Hawkins hat Geld und Freunde, und natürlich ist er außer sich, aber dennoch...
Offensichtlich können Sie und Ihr Gemahl sich nur übergroße Freundlichkeit vorwerfen - weil Sie das Unglück des Mädchens geheimhalten wollten.« Er nahm einen herzhaften Schluck aus seinem Glas.
»Und jetzt gilt Ihre größte Sorge dem Mädchen, oder nicht?«
Ich nickte. »Zum Teil ja. Für ihren Ruf kann ich im Augenblick nichts tun. Ich kann nur versuchen, ihr zu helfen, damit sie wieder gesund wird.«
Ein boshaftes schwarzes Auge spähte über den Rand des Metallkelchs, den er hielt.
»Die meisten Ärzte, die ich kenne, würden sagen: Ich kann nur versuchen, sie zu heilen.< Wollen Sie ihr tatsächlich beim Gesundwerden helfen? Es ist interessant, daß Sie den Unterschied erkennen, Madonna. Ich hatte nichts anderes erwartet.«
Ich setzte den Kelch ab, weil ich allmählich genug hatte. Meine Wangen glühten, und ich glaubte, deutlich zu spüren, daß meine Nasenspitze rot war.
»Wie ich schon sagte, bin ich keine richtige Ärztin.« Ich schloß kurz die Augen, wobei ich mir fest vornahm, nach dem Öffnen wieder zu wissen, wo oben und unten war. »Außerdem hatte ich... äh, schon einmal mit einem Fall von Vergewaltigung zu tun. Äußerlich kann man nicht viel
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