Die Geliehene Zeit
tun. Vielleicht kann man überhaupt nicht viel tun. Punktum«, fügte ich hinzu. Da besann ich mich anders und nahm den Kelch wieder auf.
»Vielleicht nicht«, pflichtete mir Raymond bei. »Aber wenn jemand imstande ist, das Innerste der Patientin zu erreichen, dann ist es doch wohl La Dame Blanche?«
Ich setzte den Kelch ab und starrte den Apotheker an. Mein Mund stand offen, und weil das bestimmt nicht gut aussah, schloß ich ihn wieder. Gedanken, Verdächtigungen und Erkenntnisse schossen mir durch den Kopf, bis sie sich heillos ineinander verhedderten. Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, hielt ich mich zunächst an den ersten Teil seiner Bemerkung.
»Das Innerste der Patientin?«
Einem offenen Gefäß auf dem Tisch entnahm er eine Prise weißen Pulvers, die er in seinen Kelch gab. Das bernsteingelbe Getränk nahm sofort eine blutrote Färbung an und begann zu brodeln.
»Drachenblut«, bemerkte er, die blubbernde Flüssigkeit schwenkend. »Es geht nur in einem versilberten Gefäß. Dabei wird der
Becher natürlich verdorben, aber unter den richtigen Umständen ist es äußerst wirksam.«
Ich gab ein leises Gurgeln von mir.
»Oh, das Innerste der Patientin«, sagte er, als erinnerte er sich an etwas, worüber wir vor Tagen gesprochen hatten. »Ja, natürlich. Eine Heilung gelingt im Grunde nur, wenn wir... wie sollen wir es nennen? Die Seele? Die Mitte? Nun, eben das Innerste der Patientin erreichen. Von dort aus kann sie sich selbst heilen. Gewiß haben Sie das schon beobachtet, Madonna. Patienten, die so schwerkrank sind, daß sie todgeweiht scheinen - aber sie sterben nicht. Oder jene, die sich von ihrem geringfügigen Leiden bei richtiger Pflege eigentlich erholen müßten, sich aber dann fortstehlen, trotz allem, was wir für sie tun.«
»Jeder, der mit Kranken zu tun hat, kann derlei beobachten«, bemerkte ich vorsichtig.
»Ja«, stimmte er zu. »Und der Stolz treibt die meisten Ärzte dazu, sich am Tod des einen schuldig zu fühlen und das Überleben der anderen auf ihr überragendes Können zurückzuführen. Aber La Dame Blanche schaut ins Innerste eines Menschen und führt ihn zur Heilung - oder in den Tod. Also mag ein Bösewicht zurecht fürchten, ihr ins Gesicht zu blicken.« Er nahm seinen Kelch, prostete mir zu und leerte die brodelnde Flüssigkeit in einem Zug. Sie hinterließ eine schwachrosa Spur auf seinen Lippen.
»Danke«, sagte ich trocken. »Es war also nicht nur Glengarrys Leichtgläubigkeit?«
Raymond zuckte die Achseln und sah dabei höchst selbstzufrieden aus. »Die Anregung kam von Ihrem Gatten«, meinte er bescheiden. »Eine exzellente Idee. Doch während Ihr Gemahl aufgrund seiner gottgegebenen Talente große Achtung genießt, kann man ihn auf dem Gebiet übernatürlicher Erscheinungen wohl kaum als Autorität betrachten.«
»Sie hingegen schon.«
Die breiten Schultern unter der grauen Samtrobe hoben sich. An einem Ärmel waren mehrere kleine, am Rand versengte Löcher, als hätten sich Glutstückchen hineingebrannt. Ein Mißgeschick bei einer Geisterbeschwörung, vermutete ich.
»Sie sind in meinem Geschäft gesehen worden«, erklärte er. »Ihre Herkunft ist geheimnisumwoben. Und, wie Ihr Gemahl bemerkt hat, ist mein Ruf etwas suspekt. Ich bewege mich in... gewissen
Kreisen, wie man so sagt...« - der lippenlose Mund verzog sich zu einem Grinsen -, »in denen Mutmaßungen über Ihre wahre Identität übertrieben ernst genommen werden können. Sie wissen ja, wie die Leute reden«, fügte er mit übertriebener Mißbilligung hinzu, so daß ich laut herauslachte.
Er stellte seinen Kelch ab und beugte sich vor.
»Sie sagten, Ihre Sorge würde nur zum Teil Mademoiselle Hawkins gelten, Madonna. Haben Sie noch andere Sorgen?«
»Durchaus.« Ich nippte an dem Likör. »Ich vermute, Sie sind über das, was in Paris geschieht, bestens im Bilde?«
Er lächelte und blickte mich mit wohlwollender Aufmerksamkeit an. »Aber natürlich, Madonna. Was möchten Sie wissen?«
»Haben Sie etwas über Charles Stuart gehört? Wissen Sie überhaupt, wer er ist?«
Die Frage überraschte ihn, und er zog seine Stirn kraus. Dann nahm er ein Glasfläschchen, das vor ihm auf dem Tisch stand, und drehte es versonnen zwischen den Handflächen.
»Ja, Madonna«, sagte er. »Sein Vater ist König von Schottland - oder sollte es sein, nicht wahr?«
»Nun, das ist Ansichtssache«, entgegnete ich, ein Rülpsen unterdrückend. »Er ist entweder König von Schottland oder Thronprätendent, aber das
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