Die Geliehene Zeit
werden. Aber wer würde sterben? Jamie? Oder Randall - und mit ihm Frank? Jamie war der bessere Schwertkämpfer, aber als Geforderter durfte Randall die Waffen wählen. Und bei Pistolen hing der Erfolg mehr vom Glück als vom Geschick ab. Nur die besten Pistolen schossen zielsicher, und selbst diese konnten zu früh losgehen oder anderweitig versagen. Plötzlich sah ich Jamie vor mir, wie er schlaff und reglos im Gras lag, Blut quoll ihm aus einer leeren Augenhöhle, und der Geruch von Schwarzpulver mischte sich mit den Frühlingsdüften des Bois de Boulogne.
»Was zum Teufel machst du da, Claire?«
Mein Kopf fuhr so schnell hoch, daß ich mir auf die Zunge biß. Ich blickte in seine Augen, und sie waren noch da, wo sie hingehörten, nämlich zu beiden Seiten der schmalen Nase. Noch nie hatte ich ihn mit derart kurzgeschorenen Haaren gesehen. Er sah aus wie ein
Fremder, die markanten Züge wirkten starr, die Rundung des Schädels zeichnete sich unter den kurzen dichten Stoppeln ab.
»Was ich mache?« wiederholte ich und schluckte. »Was ich mache? Ich sitze hier mit einer Locke von dir in der Hand und frage mich, ob du tot bist oder nicht! Das mache ich!«
»Ich bin nicht tot.« Er ging zum Schrank hinüber und öffnete ihn. Seit unserem Besuch in Sandringhams Haus hatte er sich umgezogen; er hatte sich sein Schwert umgeschnallt und trug seinen alten Rock.
»Ja, das merke ich«, sagte ich. »Nett von dir, daß du gekommen bist, um es mir zu sagen.«
»Ich bin gekommen, um meine Sachen zu holen.« Er nahm zwei Hemden und seinen langen Umhang heraus und legte alles auf einen Hocker; dann durchwühlte er eine Kommode nach sauberer Wäsche.
»Deine Sachen? Wo willst du hin?« Ich hatte nicht gewußt, was mir bevorstand, wenn ich ihn wiedersah, aber damit hatte ich nicht gerechnet.
»In einen Gasthof.« Er warf mir einen Blick zu und schien zu dem Schluß zu kommen, daß ich mehr verdient hatte als diese drei Worte. Seine Augen waren dunkel und undurchsichtig wie Lasurstein.
»Nachdem ich dich in der Kutsche nach Hause geschickt hatte, machte ich einen kurzen Spaziergang, bis ich mich wieder in der Hand hatte. Dann ging ich heim, holte mein Schwert und kehrte ins Haus des Herzogs zurück, um Randall in aller Form zu fordern. Der Butler hat mir mitgeteilt, daß Randall verhaftet worden ist.«
Sein Blick ruhte auf mir, undurchdringlich wie die Tiefe des Ozeans. Wieder schluckte ich.
»Ich fuhr zur Bastille. Dort hörte ich, du hättest unter Eid ausgesagt, Randall habe dich und Mary Hawkins in jener Nacht überfallen. Warum, Claire?«
Meine Hände zitterten so heftig, daß ich die Locke fallenließ.
»Jamie«, sagte ich mit zittriger Stimme, »Jamie, du kannst Jack Randall nicht töten.«
Sein Mundwinkel zuckte kaum wahrnehmbar.
»Ich weiß nicht, ob ich wegen deiner Sorge gerührt oder über dein geringes Vertrauen in mich gekränkt sein soll. Aber so oder so kannst du unbesorgt sein. Ich kann ihn töten. Mit Leichtigkeit.«
Die letzten Worte sprach er ganz ruhig aus, mit einem Unterton, in dem sich Haß und Befriedigung mischten.
»Das meine ich nicht! Jamie...«
»Glücklicherweise«, fuhr er fort, als hörte er mich nicht, »kann Randall beweisen, daß er den fraglichen Abend im Haus des Herzogs verbracht hat. Sobald die Polizei die Befragung der anwesenden Gäste abgeschlossen und festgestellt hat, daß Randall unschuldig ist - zumindest, was diese Anschuldigung betrifft -, wird man ihn entlassen. Ich bleibe im Gasthof, bis er frei ist. Und dann werde ich ihn finden.« Er starrte den Schrank an, aber offenbar sah er etwas anderes. »Er wird mich erwarten«, sagte er leise.
Er stopfte die Hemden und die Wäsche in eine Reisetasche und legte sich den Umhang über den Arm. Als er sich zur Tür wandte, sprang ich vom Bett auf und packte ihn am Ärmel.
»Jamie! Um Himmels willen, Jamie hör mir zu! Du kannst Jack Randall nicht töten, weil ich es nicht zulasse!«
Er musterte mich zutiefst erstaunt.
»Wegen Frank«, sagte ich. Ich ließ seinen Ärmel los und trat einen Schritt zurück.
»Frank«, wiederholte er und schüttelte den Kopf, als hätte er Ohrensausen. »Frank.«
»Ja. Wenn du Jack Randall jetzt tötest, dann wird Frank... er wird nie existieren. Er wird nicht zur Welt kommen. Jamie, du kannst doch keinen Unschuldigen umbringen!«
Bei meinen Worten wurde sein sonst so gesundes, sonnengebräuntes Gesicht fahl und fleckig. Nun stieg die Röte langsam wieder auf, bis seine Ohren glühten und
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