Die Geliehene Zeit
können ins Feuer geworfen werden. Wenn man flink und feinfühlig gearbeitet hat, kann man sich nun etwas ausruhen, denn bisher wurde noch keine Schlagader verletzt.«
Obwohl ich saß, wurde mir schwindelig, und zweifellos war mein Gesicht ebenso bleich wie Jamies. Trotzdem lächelte er, als wollte er sich seinem Gast gegenüber nachsichtig zeigen.
»Also kann der... Verurteilte... noch ein wenig weiterleben?«
»Monsieur.« Die leuchtenden schwarzen Augen des Henkers wanderten über Jamies stattliche Figur, nahmen Maß an den Schultern und den muskulösen Beinen. »Die Auswirkungen eines solchen Schocks sind nicht vorhersehbar, aber ich habe gesehen, wie ein starker Mann in diesem Zustand noch eine gute Viertelstunde gelebt hat.«
»Ich nehme an, dem Verurteilten kommt es wesentlich länger vor«, bemerkte Jamie trocken.
Ohne darauf einzugehen, nahm Monsieur Forez den Brieföffner abermals zur Hand und schwenkte ihn, während er sprach.
»Wenn der Tod naht, muß man in den Brustraum greifen, um das Herz zu packen. Hier gilt es wieder, Geschick zu beweisen. Ohne Halt durch die Eingeweide zieht sich das Herz zurück, und oft liegt es erstaunlich weit oben. Zudem ist es überaus glitschig.« Er tat so, als riebe er sich die Hände an den Rockschößen ab. »Aber die Hauptschwierigkeit besteht darin, die darüberliegenden großen Blutgefäße rasch zu durchtrennen, so daß das Organ herausgezogen werden kann, während es noch schlägt. Schließlich möchte man den Zuschauern etwas bieten«, erklärte er. »Das wirkt sich erheblich auf die Entlohnung aus. Was den Rest betrifft«, bemerkte er mit einem verächtlichen Achselzucken, »das ist reine Schlachterei. Sobald das Leben erlischt, ist kein Geschick mehr vonnöten.«
»Nein, das glaube ich auch nicht«, sagte ich matt.
»Aber Sie sind blaß, Madame! Ich habe Sie viel zu lange in ein ermüdendes Gespräch verwickelt!« rief er. Er griff nach meiner Hand, und ich widerstand dem Impuls, ihn zurückzustoßen. Seine Hand war kühl, aber seine Lippen, die flüchtig meine Haut berührten, waren so warm, daß ich überrascht den Druck meiner Hand verstärkte. Leicht und unauffällig erwiderte er den Druck, um sich dann förmlich vor Jamie zu verbeugen.
»Ich muß gehen, Monsieur Fraser. Ich hoffe, Sie und Ihre reizende Frau wiederzusehen... unter so angenehmen Umständen wie am heutigen Tage.« Die Blicke der beiden Männer begegneten sich. Dann entsann sich Monsieur Forez des Brieföffners, den er nach wie vor in der Hand hielt. Mit einem Ausruf der Verwunderung hielt er ihn auf seiner offenen Handfläche. Jamie runzelte die Stirn und nahm das Messer behutsam entgegen.
» Bon voyage , Monsieur Forez. Und vielen Dank«, Jamie verzog ironisch den Mund, »für Ihren überaus lehrreichen Besuch.«
Er bestand darauf, unseren Gast persönlich zur Tür zu bringen. Sobald ich allein war, stand ich auf und ging ans Fenster, wo ich Atemübungen durchführte, bis die dunkelblaue Kutsche in die Rue Gamboge abgebogen war.
Hinter mir öffnete sich die Tür, und Jamie trat ein. Den Brieföffner hielt er immer noch in der Hand. Er steuerte auf die große
chinesische Bodenvase am Kamin zu und ließ das Papiermesser scheppernd hineinfallen. Dann drehte er sich zu mir um und lächelte tapfer.
»Wenn das eine Warnung sein sollte, hat sie ihre Wirkung nicht verfehlt.«
Ich zuckte kurz die Achseln.
»Allerdings.«
»Wer mag ihn geschickt haben?« fragte Jamie. »Mutter Hildegarde?«
»Vermutlich. Sie hat mich gewarnt, als wir die Musik entschlüsselten. Sie sagte, was du tust, sei gefährlich.« Wie gefährlich, war mir aber erst durch den Besuch des Henkers klargeworden. Schon seit einiger Zeit litt ich nicht mehr an morgendlicher Übelkeit, doch jetzt drehte sich mir der Magen um. Wenn die jakobitischen Lords herausfinden sollten, was ich getan habe, dann würden sie es Verrat nennen . Und wenn sie es herausfänden, welche Schritte würden sie dann unternehmen?
Nach außen hin bekannte sich Jamie zu den Zielen der Jakobiten. In dieser Tarnung besuchte er Charles, bewirtete er den Graf von Marischal an seiner Tafel und verkehrte bei Hof. Und bisher hatte er bei seinen Schachpartien, Tavernenbesuchen und Trinkgelagen mit größtem Geschick der Sache der Stuarts geschadet und dabei nach außen hin den Eindruck erweckt, sie zu unterstützen. Außer uns beiden wußte nur Murtagh, daß wir versuchten, einen Aufstand der Stuarts zu vereiteln - und selbst er ahnte nicht warum,
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