Die Geliehene Zeit
Dieu nous en garde!« Gott bewahre.
»Oh. Ich dachte, Sie hätten ›Raymond‹ gesagt.«
»Ah.« Die Finger nahmen ihre Arbeit wieder auf und suchten in der Leistengegend nach geschwollenen Lymphknoten, die auf eine Infektion schließen lassen würden. Daß Schwellungen da waren, wußte ich. Ich hatte sie selbst ertastet, als meine Hände immer wieder ruhelos und in dumpfer Trauer über meinen leeren Bauch geglitten waren. Ich spürte auch das Fieber, den Schmerz und die Kälte, die mir in den Knochen saß.
»Ich habe den heiligen Raymond Nonnatus um Hilfe angefleht«, erklärte Mutter Hildegarde, während sie ein Tuch in kaltem Wasser auswrang. »Er ist der Schutzheilige aller werdenden Mütter.«
»Zu denen gehöre ich jetzt nicht mehr.« Unbeteiligt sah ich den Schmerz in ihren Augen, doch der Ausdruck verflog sofort wieder, als sie meine Stirn abwischte und den kühlen Lappen über meine Wangen und meinen heißen, feuchten Hals gleiten ließ.
Bei der Berührung mit dem kalten Wasser zitterte ich plötzlich. Mutter Hildegarde hielt inne und legte mir mitfühlend die Hand auf die Stirn.
»Der heilige Raymond ist da nicht heikel«, sagte sie mit leichtem Tadel. »Ich selbst hole mir Hilfe, wo ich sie bekommen kann. Das würde ich auch Ihnen empfehlen.«
»Mhm.« Ich schloß die Augen und fand Zuflucht in einem grauen Nebel. Jetzt entdeckte ich matte Lichter in diesem Nebel, knisternd wie Wetterleuchten am sommerlichen Horizont.
Ich hörte das Klicken der Rosenkranzperlen aus schwarzem Gagat, als sich Mutter Hildegarde aufrichtete, und die leise Stimme einer Schwester, die in der Tür stand und die Oberin zu einem anderen Notfall rief. Sie hatte schon fast die Tür erreicht, als ihr ein
Gedanke kam. Die schweren Röcke raschelten, als sie sich umdrehte und gebieterisch auf das Fußende meines Bettes deutete.
»Bouton!« sagte sie. »Au pied, reste!«
Ohne zu zögern, machte der Hund kehrt und sprang auf mein Bett. Dort angekommen, brauchte er eine Weile, um das Bettzeug mit den Pfoten zu bearbeiten und sich dreimal um die eigene Achse zu drehen, als wollte er böse Geister verscheuchen. Aber schließlich ließ er sich zu meinen Füßen nieder und legte mit einem tiefen Seufzer den Kopf auf die Pfoten.
Zufrieden sah uns Mutter Hildegarde an, dann verabschiedete sie sich mit einem »Que Dieu vous benisse, mon enfant« und verschwand.
Durch den Nebel und die betäubende Kälte, die mich einhüllten, empfand ich so etwas wie Dankbarkeit für diese Geste. Da mir die Oberin kein Kind in die Arme legen konnte, hatte sie mir den besten Ersatz gegeben, den sie kannte.
Das struppige Tier auf meinen Füßen spendete mir tatsächlich körperlichen Trost. Bouton lag so still wie die Hunde zu Füßen der Könige auf den Grabplatten der Ruhestätten zu St. Denis. Seine Wärme verleugnete die marmorne Kälte meiner Füße, und seine Gegenwart war besser als das Alleinsein, aber auch besser als menschliche Gesellschaft, da er nichts von mir forderte. Nichts war genau das, was ich fühlte, und alles, was ich geben konnte.
Mit einem leisen Hundefurz legte sich Bouton zum Schlafen zurecht. Ich versuchte, ebenfalls einzuschlummern.
Irgendwann gelang es mir, und ich träumte. Fieberträume von Erschöpfung und Einsamkeit, von einer unlösbaren Aufgabe und der endlosen Mühe, sie zu erfüllen. Eine unaufhörliche, schmerzliche Anstrengung, unternommen an einem felsigen, öden Ort, von dichtem, grauem Nebel umgeben, durch den mich der Verlust verfolgte wie ein Gespenst.
Plötzlich erwachte ich und merkte, daß Bouton fort war. Aber trotzdem war ich nicht allein.
Raymonds Haaransatz zog sich in einer geraden Linie über seine breite Stirn. Sein dichtes graues Haar war zurückgekämmt und reichte ihm bis auf die Schultern, so daß die massive Stirn wie ein Felsüberhang hervortrat und das restliche Gesicht überschattete. Der Kopf schwebte über mir, und für meine Fieberaugen sah er aus wie ein Grabstein.
Während Raymond mit den Schwestern sprach, bewegten sich die Falten und Furchen seiner Stirn, und sie erschienen mir wie Buchstaben, die unter der Oberfläche des Steines lagen und versuchten, nach oben zu dringen, so daß man den Namen des Toten lesen konnte. Ich war überzeugt, daß sogleich mein eigener Name auf dem weißen Grabstein erscheinen würde und ich in diesem Augenblick wahrhaftig sterben würde. Ich bog den Rücken durch und schrie.
»Sehen Sie nur! Sie will Sie nicht dahaben, Sie abstoßender Mensch -
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