Die Geliehene Zeit
finden ist und die Suche nach Weisheit in das Streben nach Macht und Reichtum - nach weltlichen Dingen - verkehrt werden kann.«
Er ließ seinen Blick nochmals von einem Angeklagten zum anderen wandern, als wollte er nun entscheiden, wer von beiden dieser Art von Verirrung mehr zugetan sein könnte. Der Comte schwitzte immer noch: auf seinem weißen Seidenrock zeichneten sich dunkle Flecken ab.
»Nein, Eure Majestät!« rief er, schüttelte sein dunkles Haar und richtete seinen brennenden Blick auf Maître Raymond. »Es stimmt, daß in diesem Land dunkle Mächte am Werk sind - die Verworfenheit, von der Ihr sprecht, weilt mitten unter uns! Aber solche Verruchtheit wohnt nicht in der Brust Eures treuesten Untertans«, er schlug sich auf die Brust, damit uns nicht entging, wen er meinte, »nein, Eure Majestät! Diese Verirrungen des Geistes und die Ausübung verbotener Künste müßt Ihr jenseits Eures Hofstaats suchen.« Er beschuldigte Maitre Raymond nicht offen, aber sein Blick in dessen Richtung war eindeutig.
Der König nahm diesen Ausbruch ungerührt zur Kenntnis. »Solche Greuel griffen während der Herrschaft meines Urgroßvaters um sich«, sagte er leise. »Wir haben sie ausgemerzt, wo immer sie sich zeigten. Hexenmeister und Hexen, welche die Lehren der Kirche verdrehen... Monsieurs, wir werden nicht dulden, daß solche Verworfenheit wiederauflebt.«
»Also.« Er schlug mit beiden Händen leicht auf den Tisch und richtete sich auf. Den Blick fest auf Raymond und den Comte gerichtet, deutete er mit einer Hand auf mich.
»Wir haben eine Zeugin hierhergebracht«, erklärte er. »Eine unfehlbare Richterin über die Wahrheit, über die Reinheit des Herzens.«
Ich gab ein leises Glucksen von mir, was den König veranlaßte, sich zu mir umzudrehen.
»Eine weiße Dame«, sagte er leise. »La Dame Blanche kann nicht lügen. Sie blickt in das Herz und in die Seele eines Menschen und kann diese Wahrheit zum Guten wenden... oder zur Vernichtung.«
Das Gefühl von Unwirklichkeit, das mich den ganzen Abend lang begleitet hatte, löste sich schlagartig auf. Die durch den Wein verursachte leichte Benommenheit wich von mir, und mit einemmal war ich stocknüchtern. Ich öffnete den Mund, schloß ihn aber gleich wieder, weil mir aufging, daß ich absolut gar nichts zu sagen wußte.
Es lief mir kalt den Rücken hinunter, und mein Magen zog sich zusammen, als der König seine Anordnungen traf. Auf den Boden sollten zwei Pentagramme gemalt werden, in die sich die beiden Magier stellen mußten. Jeder sollte dann über seine eigenen Taten und Beweggründe Zeugnis ablegen. Und die weiße Dame würde den Wahrheitsgehalt der Aussagen beurteilen.
»Jesus. H. Roosevelt Christ«, flüsterte ich.
»Monsieur le Comte?« Der König deutete auf das erste Pentagramm, das mit Kreide auf dem Teppich gezogen worden war. Nur ein König brachte es fertig, einen echten Aubusson so unbekümmert zu verunstalten.
Im Vorbeigehen wisperte mir der Comte zu: »Ich warne Sie, Madame. Ich arbeite nicht allein.« Dann nahm er mir gegenüber seinen Platz ein und verbeugte sich ironisch.
Was das zu bedeuten hatte, war hinlänglich klar: Wenn ich ihn verurteilte, würden seine Helfershelfer sofort zur Stelle sein, um mir die Brustwarzen abzuschneiden. Ich leckte mir die trockenen Lippen und verfluchte Louis. Warum hatte er nicht einfach meinen Körper gewollt?
Raymond trat gelassen auf den ihm zugewiesenen Platz und nickte freundlich in meine Richtung. Seine runden schwarzen Augen gaben mir keinen Hinweis darauf, wie ich mich verhalten sollte.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Der König bedeutete mir, mich ihm gegenüber zwischen die beiden Pentagramme zu stellen. Die Kapuzenträger nahmen hinter dem König Aufstellung, eine gesichtslose, bedrohliche Gruppe.
Es herrschte vollkommenes Schweigen. Der Rauch der Kerzen
hing in einer Wolke unter der vergoldeten Decke und bewegte sich in der trägen Luftströmung. Alle Blicke richteten sich auf mich. Schließlich wandte ich mich in meiner Verzweiflung an den Comte und nickte.
»Sie können beginnen, Monsieur le Comte«, sagte ich.
Er lächelte - zumindest vermutete ich, daß es ein Lächeln sein sollte - und begann. Zunächst erklärte er die Grundlagen der Kabbala, ging dann zur Exegese der dreiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets über und erläuterte deren Symbolgehalt. Der Vortrag klang überaus gelehrt, vollkommen harmlos und schrecklich langweilig. Der
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