Die Geliehene Zeit
seinen Rock- und Ärmelaufschlägen schimmerten im Kerzenlicht. Trotz dieser Pracht sah der Comte ziemlich mitgenommen aus - sein Gesicht war vor Anspannung verzerrt, das Spitzenjabot war erschlafft, und sein Hemdkragen zeigte einen dunklen Schweißrand.
Raymond hingegen wirkte so ruhig wie ein Steinbutt auf Eis. Unerschütterlich stand er da, die Hände in den Ärmeln seiner wie immer recht schmuddligen Samtrobe vergraben, das breite, flache Gesicht gelassen und undurchdringlich.
»Diese beiden Männer«, erklärte Louis und wies auf Raymond und den Comte, »sind der Zauberei, der Hexerei und der Verkehrung des rechtmäßigen Strebens nach Wissen in die Erforschung der Schwarzen Kunst angeklagt.« Seine Stimme war kalt und voller Ingrimm. »Derartige Praktiken sind unter der Herrschaft meines Urgroßvaters aufgeblüht, doch in unserem Reich werden wir solche Gottlosigkeit nicht dulden.«
Der König schnippte einem Kapuzenträger zu, der mit Feder und Tinte vor einem Aktenbündel saß. »Lesen Sie bitte die Anklageschrift vor«, sagte er.
Gehorsam stand der Angesprochene auf und begann aus den Papieren vorzulesen; man warf den beiden Greueltaten und abscheuliche Opferungen vor, die Ermordung unschuldiger Menschen, die Profanierung des allerheiligsten Sakraments durch Entweihung der Hostie, den Vollzug von Liebesriten auf dem Altar Gottes - blitzartig erkannte ich, wie die Heilung, die Raymond im Höpital des Anges an mir vollzogen hatte, ausgesehen haben mußte, und ich empfand tiefe Dankbarkeit, daß er nicht entdeckt worden war.
Ich hörte, wie der Name »du Carrefours« fiel, und schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der mir hochkam. Was hatte Pastor Laurent gesagt? Der Hexer du Carrefours war in Paris verbrannt worden, und zwar aufgrund einer Anklage, wie ich sie jetzt hörte: »... die Beschwörung von Dämonen und Mächten der Finsternis, die Herbeiführung von Krankheit und Tod gegen Bezahlung...« - ich legte die Hand auf den Magen, eingedenk der bitteren Faulbaumrinde - »Verwünschungen gegen Mitglieder des Hofes, Schändung von Jungfrauen...« Ich warf dem Comte einen flüchtigen Blick zu, doch sein Gesicht war wie versteinert; mit zusammengekniffenen Lippen lauschte er den Beschuldigungen.
Raymond stand reglos da, das silberne Haar fiel ihm auf die Schultern, und er sah aus, als wäre das Gesagte für ihn so folgenlos wie das Lied einer Drossel. Ich hatte die kabbalistischen Symbole in seinem Kabinett gesehen, konnte mir aber nicht vorstellen, daß der Mann, den ich kannte - der mitleidsvolle Giftmischer, der praktische Apotheker -, all die aufgelisteten Schandtaten begangen hatte. Endlich war die Verlesung der Anklageschrift abgeschlossen. Der Kapuzenträger sah den König an und ließ sich auf dessen Zeichen wieder auf seinem Stuhl nieder.
»Umfangreiche Nachforschungen wurden angestellt«, erklärte der König, an mich gewandt. »Beweise wurden vorgelegt und zahlreiche Zeugen gehört. Es scheint klar«, er warf einen kalten Blick auf die angeklagten Magier, »daß beide Männer die Schriften der alten Philosophen studiert und die Kunst der Weissagung mit Hilfe der Bewegungen der Himmelskörper praktiziert haben. Nun...« Er zuckte die Achseln. »Das ist an sich kein Verbrechen. Mir wurde zu verstehen gegeben«, er blickte auf einen schwerfälligen Mann mit Kapuze, vermutlich den Bischof von Paris, »daß dies mit den Lehren der Kirche nicht unvereinbar ist. Selbst der heilige Augustinus hat die Geheimnisse der Astrologie erkundet.«
Ich erinnerte mich dunkel, daß sich Augustinus tatsächlich mit Astrologie befaßt, sie jedoch ziemlich verächtlich als vollkommenen Unsinn abgetan hatte. Doch ich bezweifelte, daß Louis die Bekenntnisse des heiligen Augustinus gelesen hatte, und sich auf ihn zu berufen war einem der Hexerei beschuldigten Angeklagten zweifellos dienlich. Sternguckerei schien im Vergleich zu Säuglingsopfern und anderen namenlosen Orgien relativ harmlos.
Mit wachsender Besorgnis fragte ich mich, was ich bei dieser Versammlung verloren hatte. War der Besuch von Maitre Raymond an meinem Krankenbett vielleicht doch nicht unbeobachtet geblieben?
»An der rechten Anwendung von Wissen und dem Streben nach Weisheit haben wir nichts auszusetzen«, sagte der König wohlüberlegt. »Aus den Schriften der alten Philosophen kann man vieles lernen, wenn man Vorsicht und Demut walten läßt. Aber wahr ist auch, daß in solchen Schriften nicht nur viel Gutes, sondern auch Böses zu
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