Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
Vom Netzwerk:
Schock, weil er den Anblick von Wunden und Blut nicht gewohnt war. So manch junge Schwesternhelferin im Lazarett, die soeben ihrem ersten Verwundeten die Uniform abgestreift hatte, war nach einem Blick auf die Wunde hinausgestürmt, um sich zu übergeben. Dann kam sie wieder und versorgte den Patienten. Kriegsverletzungen sehen ganz besonders abstoßend aus.

    Aber das konnte hier nicht der Fall sein. Charles war zwar nicht der geborene Krieger, aber er war, genau wie Jamie, bereits mit vierzehn Jahren in seine erste Schlacht gezogen. Nein, sagte ich mir, als das Entsetzen allmählich aus den sanften braunen Augen wich, der Anblick von Blut und Wunden konnte ihn nicht schrecken.
    Doch nun stand kein Kätner, kein Hirte vor ihm. Kein namenloser Untertan, dessen Pflicht es war, für die Stuarts sein Leben zu opfern, sondern ein Freund. Und vielleicht hatte Jamies Wunde ihm bewußt gemacht, daß auf seinen Befehl hin Blut vergossen worden war, Männer um seinetwillen verwundet worden waren.
    Er betrachtete die Wunde eindringlich, dann sah er Jamie in die Augen. Er drückte ihm die Hand und neigte den Kopf.
    »Danke«, sagte er leise.
    In diesem Augenblick dachte ich, daß er vielleicht doch das Zeug zum König gehabt hätte.
     
    Auf einem kleinen Hügel hinter der Kirche hatte man auf Befehl Seiner Hoheit ein Zelt errichtet, in dem die Gefallenen aufgebahrt wurden. Die englischen Soldaten, die sonst mit besonderer Rücksichtnahme behandelt wurden, waren hier den Schotten gleichgestellt; die Männer lagen nebeneinander, die Gesichter mit Tüchern bedeckt. Die Hochlandschotten waren nur durch ihre Tracht von den anderen zu unterscheiden. Das Begräbnis sollte am Tag darauf stattfinden. MacDonald von Keppoch hatte einen französischen Priester mitgebracht, der mit vor Erschöpfung hängenden Schultern und einer achtlos über ein schmutziges Hochlandplaid gelegten purpurroten Stola bedächtig durch das Zelt schritt und vor jedem Toten stehenblieb, um ein Gebet zu sprechen.
    »Möge er ewige Ruhe finden, o Herr, und das ewige Licht leuchte ihm.« Er bekreuzigte sich mechanisch und setzte seinen Rundgang fort.
    Ich war schon vorher im Zelt gewesen und hatte mit klopfendem Herzen die Toten unter den Hochlandschotten gezählt. Einundzwanzig. Als ich jetzt das Zelt betrat, sah ich, daß ihre Zahl auf sechsundzwanzig angewachsen war.
    Ein siebenundzwanzigster lag in der Kirche, der letzten Station seiner irdischen Reise: Alexander Kincaid Fraser, der an seinen schweren Brust- und Bauchwunden dahinsiechte. Gegen seine inneren Verletzungen waren wir machtlos. Ich hatte ihn gesehen, als er
gebracht worden war, kreidebleich - er hatte den ganzen Nachmittag lang blutend auf dem Schlachtfeld gelegen.
    Mühsam hatte er mich angelächelt, und ich hatte seine rissigen Lippen mit Wasser benetzt und mit Talg bestrichen. Wenn ich ihm zu trinken gegeben hätte, wäre er sofort gestorben, da das Wasser durch seine durchlöcherten Eingeweide gedrungen wäre und einen tödlichen Schock verursacht hätte. Ich zögerte einen Augenblick, als ich sah, wie schwer er verwundet war, und dachte, ein schneller Tod wäre vielleicht besser... aber dann hatte ich begriffen, daß er mit einem Priester sprechen und beichten wollte. Und so hatte ich ihn in die Kirche bringen lassen, wo Vater Benin die Sterbenden betreute.
    Jamie hatte jede halbe Stunde nach Kincaid gesehen, aber der hielt erstaunlich lange durch. Von seinem letzten Besuch war Jamie noch nicht zurückgekehrt. Ich wußte, daß der Kampf nun zu Ende ging, und wollte nachsehen, ob ich vielleicht helfen konnte.
    Der Platz unter dem Fenster, wo Kincaid gelegen hatte, war leer, nur ein großer, dunkler Fleck war geblieben. Kincaid befand sich jedoch auch nicht im Totenzelt, und auch Jamie war nirgendwo zu sehen.
    Schließlich fand ich beide auf dem Hügel hinter der Kirche. Jamie saß auf einem Felsblock, Alexander Kincaid in den Armen, dessen lockiger Kopf auf seiner Schulter lag, die Beine leblos von sich gestreckt. Beide waren reglos wie der Fels, der sie trug. Stumm wie der Tod.
    Ich betastete Kincaids weiße, schlaffe Hand, und strich ihm über das dichte braune Haar, das gar nicht tot aussah. Ein Mann sollte nicht unberührt sterben, aber Kincaid hatte nie bei einer Frau gelegen.
    »Er ist tot, Jamie«, flüsterte ich.
    Jamie bewegte sich nicht, dann aber nickte er und öffnete die Augen, als ob er sich nur widerstrebend der Wahrheit stellte. Inzwischen war es Nacht geworden.
    »Ich weiß. Er

Weitere Kostenlose Bücher