Die Geliehene Zeit
Eindruck, den sein Äußeres hinterließ, durch sein Verhalten nicht wettmachen können. Als er merkte, daß sein Angreifer ein Schotte war, hatte er erleichtert aufgeseufzt und dann den Mund geöffnet. Jamie konnte ihm gerade noch die Hand vorhalten, bevor er eine unbedachte Frage stellte.
»Was haben Sie denn hier zu suchen?«« murmelte er dem Priester ärgerlich ins Ohr. »Sie sollten doch hinter den Linien bleiben.«
Als der Priester vor Schreck die Augen weit aufriß, wußte Jamie Bescheid: Der Mann Gottes hatte sich in der Dunkelheit verlaufen. Bei der späten Einsicht, daß er in der Vorhut der Hochlandschotten marschierte, rutschte ihm das Herz in die Hose.
Jamie blickte sich um. Er wagte es nicht, den Priester zurückzuschicken.
In der nebligen Dunkelheit würde er auf die vorrückenden Hochlandschotten stoßen, die ihn leicht für einen Feind halten und auf der Stelle töten könnten. Er packte den Mann, der einen ganzen Kopf kleiner war als er, am Kragen und drückte ihn zu Boden.
»Legen Sie sich flach nieder und bleiben Sie so, bis das Feuer eingestellt wird«, zischte er. Der Priester nickte folgsam. Dann entdeckte er plötzlich den englischen Soldaten, der kaum einen Meter entfernt am Boden lag. Er blickte Jamie erschrocken an und tastete dann nach den Fläschchen mit Chrisam und Weihwasser, die er statt eines Dolches bei sich führte.
Jamie rollte entnervt die Augen und deutete mit Gesten an, daß der Mann keineswegs tot war und deshalb die Dienste des Priesters nicht nötig hatte. Da dies nicht den erwünschten Erfolg hatte, beugte er sich hinunter, ergriff die Hand des Priesters und drückte dessen Finger an den Hals des Engländers, um ihm klarzumachen, daß dieser Mann nicht etwa das erste Opfer der Schlacht war. Er erstarrte in dieser grotesken Haltung, als er hinter sich eine Stimme hörte.
»Halt! Wer da?«
»Hast du einen Schluck Wasser für mich, Sassenach?« fragte Jamie. »Ich habe vom Erzählen eine ganz trockene Kehle bekommen.«
»Du Schuft!« sagte ich. »Du kannst doch an dieser Stelle nicht aufhören! Was geschah dann?«
»Wasser«, wiederholte er grinsend, »dann erzähl’ ich weiter.«
»Also gut.« Ich reichte ihm eine Flasche. »Was geschah weiter?«
»Nichts«, sagte er, ließ die Flasche sinken und wischte sich den Mund am Ärmel trocken. »Was glaubst du denn? Hätte ich ihm vielleicht antworten sollen?« Er grinste mich unverschämt an und duckte sich, als ich zu einer Ohrfeige ausholte.
»Aber, aber«, tadelte er. »Ist das etwa die feine Art, so mit einem Mann umzugehen, der im Dienste seines Königs verwundet worden ist?«
»Aha, verwundet?« gab ich zurück. »Glaube mir, Jamie Fraser, ein bloßer Säbelhieb ist gar nichts im Vergleich mit dem, was du erleben wirst, wenn du...«
»Jetzt willst du mir auch noch drohen, was? Wie hieß es doch gleich in dem Gedicht, von dem du mir erzählt hast: >Wenn Schmerz
und Kummer die Stirn verdüstern, ein hilfreicher Engel...‹ autsch!««
»Beim nächstenmal reiße ich es dir mit der Wurzel aus«, sagte ich und ließ sein Ohr los. »Erzähl weiter, ich muß gleich wieder rein.«
Er rieb sich bedächtig das Ohr, lehnte sich aber wieder zurück und fuhr fort zu erzählen.
»Also, wir kauerten am Boden, der Priester und ich, starrten einander an und lauschten den Wachposten, die nur wenige Meter von uns entfernt standen. › Was ist das?< fragt der eine, und ich überlegte, ob es mir gelingen würde, ihn rechtzeitig niederzustechen, bevor er mir in den Rücken schießt, aber was wäre dann mit seinem Kameraden? Denn von dem Priester konnte ich keine Hilfe erwarten, außer einem letzten Gebet über meiner Leiche.«
Es folgte eine nervenzerfetzende Stille, während der die beiden Jakobiten im Gras kauerten, immer noch Hände haltend, da sie auch nicht die geringste Bewegung wagten.
»Ach, du siehst Gespenster«, erwiderte schließlich der andere Posten. Jamie spürte förmlich den Schauder der Erleichterung, der den Priester durchfuhr, und er ließ dessen Hand los. »Hier ist nichts außer Ginsterbüschen. Laß es gut sein, Kamerad«, sagte der Wachposten beruhigend, und Jamie hörte, wie er dem anderen auf die Schulter klopfte. »Hier stehen verdammt viele Ginsterbüsche rum, und bei dieser Dunkelheit könnte man leicht meinen, es wäre die gesamte Hochlandarmee.« Jamie glaubte, ein ersticktes Lachen aus einem der »Ginsterbüsche« zu hören.
Er blickte zum Bergkamm hinauf, wo die Sterne langsam verblaßten.
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