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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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In zehn Minuten würde der erste Lichtstreifen am Horizont erscheinen. Dann würden Johnnie Copes Truppen schnell merken, daß die Hochlandarmee nicht, wie sie glaubten, eine Marschstunde entfernt in der anderen Richtung lagerte, sondern bereits die feindlichen Linien durchbrochen hatte.
    Ein Geräusch war zu hören, vom Meer her. Ein schwaches, undeutliches Geräusch, doch es versetzte ein schlachterfahrenes Ohr in höchste Alarmbereitschaft. Jemand, so vermutete Jamie, war über einen Ginsterbusch gestolpert.
    »He?« Einer der Wachposten horchte auf. »Was ist das?«
    Der Priester würde allein zurechtkommen müssen. Jamie stand auf, das Breitschwert gezückt, und mit einem großen Schritt war er bei dem Wachposten. Er war nur ein Schatten in der Dunkelheit,
doch er sah ihn deutlich vor sich. Erbarmungslos ließ er sein Schwert niedersausen und spaltete den Schädel des Mannes.
    »Hochlandschotten!« schrie der zweite Posten entsetzt. Wie ein aufgescheuchter Hase verschwand er in der Dunkelheit, bevor Jamie sein blutgetränktes Schwert aus der fürchterlichen Wunde herausziehen konnte. Er stemmte den Fuß gegen den Rücken des zu Boden gesunkenen Wachpostens und zog die Waffe mit einem Ruck - und mit zusammengebissenen Zähnen - aus dem gespaltenen Schädel.
    Jetzt wurde entlang der englischen Linien Alarm geschlagen; Jamie hörte und fühlte die Aufregung der schroff aus dem Schlaf gerissenen Männer, die noch ganz benommen nach ihren Waffen tasteten und in allen Richtungen nach der unsichtbaren Bedrohung Ausschau hielten.
    Clanranalds Dudelsackpfeifer befanden sich rechts hinter Jamie, doch noch kam kein Signal zum Angriff. Dann hieß es also weiter vorrücken, mit klopfendem Herzen und angespannten Bauchmuskeln, die Augen angestrengt in der verblassenden Dunkelheit umherirrend. Das warme Blut, das auf Jamies Gesicht gespritzt war, wurde langsam kalt und klebrig.
    »Zuerst habe ich sie nur gehört«, sagte Jamie und starrte in die Dunkelheit, als suchte er immer noch die englischen Soldaten. »Dann sah ich sie auch: die Engländer, die wie wild durcheinanderliefen, und die Männer hinter mir. George McClure kam an meine Seite, auf der anderen Seite erschienen Wallace und Ross, und wir rückten weiter voran, immer schneller und schneller, und wir sahen die Unordnung in den Reihen der sassenaches, die plötzlich vor uns auftauchten.«
    Ein dumpfes Dröhnen von rechts; aus einer Kanone wurde gefeuert. Wenig später eine zweite, und dann, als wäre dies das Signal, ertönten die Kriegsrufe aus den Reihen der vorrückenden Hochlandschotten.
    »Dann setzten die Dudelsackpfeifer ein«, fuhr er mit geschlossenen Augen fort. »Ich erinnerte mich erst wieder an meine Muskete, als ich dicht hinter mir einen Knall hörte; ich hatte sie neben dem Priester im Gras liegenlassen. In der Schlacht nimmt man nur das wahr, was in unmittelbarer Nähe geschieht.
    Man hört einen Ruf, und man fängt an zu laufen. Langsam, ein, zwei Schritte, während man seinen Gürtel losschnallt, und dann
löst sich das Plaid, und man springt, unter den Füßen spritzt der Dreck hoch, und man spürt das kühle nasse Gras an seinen Füßen. Der Wind kriecht einem unters Hemd, bis zum Bauch, die Arme entlang... Dann reißt einen das Getöse mit, und man schreit - wie ein Kind, das einen Hügel hinunterläuft und gegen den Wind anschreit, als wollte es sich vom Klang der eigenen Stimme davontragen lassen.«
    Ihr eigenes Gebrüll trug sie in die Ebene hinunter, und ihr gewaltiger Ansturm erschütterte die Übermacht der englischen Truppen und wälzte sie nieder in einer fürchterlichen blutigen Woge.
    »Sie rannten davon«, fuhr er leise fort. »Ein Mann stand mir im Kampf gegenüber - nur ein einziger, in der ganzen Schlacht. Die anderen habe ich von hinten gestellt.« Er fuhr sich mit seiner schmutzigen Hand übers Gesicht, und ich spürte, wie er erschauderte.
    »Ich erinnere mich... an alles«, sagte er, beinahe flüsternd. »An jeden Schlag. An jedes Gesicht. An den Mann, der vor mir auf dem Boden lag und vor Angst in die Hose machte. An die wiehernden Pferde. An den Gestank - des Schießpulvers, des Blutes, meines eigenen Schweißes. An alles. Aber es war so, als sähe ich mir dabei von außen zu. Ich war nicht wirklich da.« Er machte die Augen auf und sah mich von der Seite an. Er zitterte.
    »Verstehst du das?« fragte er.
    »Ja.«
    Ich hatte zwar nicht mit Schwert und Dolch gekämpft, aber mit meinen bloßen Händen und mit meiner Willenskraft

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