Die Geliehene Zeit
keinen Ton heraus. Also schloß ich die Augen. Wenn ich nicht in die beiden aschfahlen Gesichter vor mir blicken mußte, würde ich vielleicht eher den Mut aufbringen. Bitte, ich will einfach nur die Wahrheit sagen, flehte ich, ohne zu wissen, an wen ich mich wandte. An Jamie vielleicht.
Ich hatte schon einmal die Wahrheit gesagt, und es war nicht gutgegangen.
Ich preßte die Augen noch fester zu. Jetzt meinte ich, wieder den Karbolgeruch des Krankenhauses einzuatmen und den ungewohnt steifen Kopfkissenbezug an meiner Wange zu spüren. Und vom Korridor her drang Franks Stimme zu mir, fast keuchend vor unterdrückter Wut.
»Was meinen Sie damit, ich soll sie nicht bedrängen? Ist das Ihr Ernst? Meine Frau ist fast drei Jahre lang verschwunden, kommt schmutzig, mißhandelt und schwanger zurück, und ich soll ihr keine Fragen stellen?«
Beruhigend flüsterte der Arzt auf ihn ein. Ich verstand nur die Worte »Wahnvorstellungen«, »Trauma« und »Heben Sie sich das für später auf, mein Guter, zumindest noch eine Weile«. Dann hörte ich Franks protestierende Stimme schwächer werden, während er resolut den Flur entlang zum Ausgang komplimentiert wurde. Franks vertraute Stimme, die auch jetzt noch einen Ansturm von Trauer, Wut und Verzweiflung in mir wachrief.
Damals hatte ich mich hilfesuchend zusammengerollt, das Kopfkissen an die Brust gepreßt und so fest hineingebissen, daß der Baumwollstoff zerriß und ich die plustrigen Federn in meinem Mund spürte.
Ich biß auch jetzt die Zähne zusammen, doch in Ermangelung einer Füllung knirschten sie nur. Endlich gab ich mir einen Ruck und öffnete die Augen.
»Hört mal«, sagte ich so sachlich und vernünftig ich konnte. »Es tut mir leid. Ich weiß, daß es unsinnig klingt. Aber es ist nun einmal wahr, und daran kann ich nichts ändern.«
Brianna beruhigten meine Worte nicht im mindesten. Sie rückte näher an Roger heran. Der hatte sein ungläubiges Staunen abgelegt und zeigte vorsichtiges Interesse. Besaß er vielleicht doch das nötige Vorstellungsvermögen, um die Wahrheit zu begreifen?
Ich entschloß mich jedenfalls, seinen Gesichtsausdruck als hoffnungsvollen Hinweis zu werten, und öffnete meine Fäuste.
»Diese verdammten Steine sind schuld«, erklärte ich. »Ihr wißt doch, der Steinkreis auf dem Feenhügel im Westen.«
»Craigh na Dun«, murmelte Roger. »Meinen Sie den?«
»Genau.« Erleichtert seufzte ich auf. »Dann kennen Sie vielleicht auch die Sagen, die man sich über die Feenhügel erzählt, nicht wahr? Über Menschen, die im Felsgestein gefangen sind und zweihundert Jahre später wieder aufwachen?«
Briannas Unruhe wuchs von Minute zu Minute.
»Mutter, ich finde wirklich, du solltest dich jetzt hinlegen«, erklärte sie und stand auf. »Vielleicht kann ich Fiona...«
Doch Roger hielt sie fest.
»Nein, warte!« sagte er. Er sah mich mit jener gezügelten Neugier an, die ein Wissenschaftler zeigt, bevor er eine neue Probe unters Mikroskop schiebt. »Fahren Sie fort«, forderte er mich auf.
»Danke«, erwiderte ich trocken. »Macht euch keine Sorgen. Ich habe nicht vor, euch Vorträge über das Feenreich zu halten. Ich dachte nur, ihr würdet gern hören, daß diese Legenden einen wahren Kern enthalten. Allerdings weiß ich nicht, was sich wirklich dort oben befindet oder wie es funktioniert. Ich weiß lediglich...« Ich holte tief Luft. »Ich weiß lediglich, daß ich im Jahr 1945 in einen dieser verdammten gespaltenen Steine geriet und im Jahr 1743 am Fuß des Berges wieder aufwachte.«
Genau das hatte ich auch Frank erzählt. Sprachlos hatte er mich einen Moment lang angestarrt; dann hatte er nach der Vase auf dem Nachttisch gegriffen und sie auf den Boden geschmettert.
Doch Roger blickte mich an wie ein Wissenschaftler, dessen neue Mikrobe seine kühnsten Erwartungen erfüllt hat. Ich fragte mich, warum, doch momentan war ich zu sehr damit beschäftigt, Worte zu finden, die einigermaßen vernünftig klangen.
»Der erste, der mir über den Weg lief, war ein englischer Dragoner in voller Montur«, sagte ich. »Und da dämmerte mir, daß etwas nicht stimmte.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Über Rogers Gesicht huschte ein Lächeln, doch Brianna wirkte entsetzt wie zuvor.
»Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich zurückkehren sollte.« Ich wandte mich lieber an Roger, da er zumindest die Bereitschaft zeigte, mir zuzuhören.
»Zudem war es so, daß Damen nicht ohne Begleitung in der Gegend herumspazierten, und
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