Die Geliehene Zeit
Verzweiflung löste, die meinen Magen zusammenkrampfte. Endlich ebbte meine Panik ab, und ich sah Mary mit tränenverschleierten Augen an.
»Es geht schon wieder.« Ich setzte mich auf und putzte mir nicht gerade damenhaft mit dem Ärmel die Nase. Dann nahm ich das dargebotene Handtuch und drückte es mir auf die Augen. Als Mary sich besorgt über mich beugte, griff ich nach ihrer Hand und streichelte sie beruhigend.
»Wirklich«, sagte ich. »Es geht mir besser. Und ich bin so froh,
daß du hier bist.« Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich ließ das Tuch sinken und sah sie forschend an.
»Was ich dich fragen wollte - warum bist du überhaupt hier? In diesem Haus, meine ich.«
Mary senkte die Augen, errötete und zupfte an der Tagesdecke.
»Der H-Herzog ist mein Pate, das weißt du doch.«
»Ja, das habe ich inzwischen mitbekommen«, erwiderte ich. »Doch ich habe so meine Zweifel, daß es ihm nur um deine reizende Gesellschaft geht.«
Meine Bemerkung entlockte ihr ein zaghaftes Lächeln. »N-nein. Aber er, der Herzog, meine ich, er denkt, daß er einen passenden G-G-Gemahl für mich gefunden hat.« Die Anstrengung, das Wort »Gemahl« auszusprechen, hatte ihr die Röte ins Gesicht getrieben. »Papa hat mich hergebracht, damit ich ihn kennenlerne.«
Ihr Verhalten ließ darauf schließen, daß man ihr besser nicht zur Verlobung gratulierte. »Und, wer ist es?«
Wie sich herausstellte, kannte sie ihn nur dem Namen nach. Ein Mr. Isaacson, der als Importeur in London tätig war. Der vielbeschäftigte Mann hatte keine Zeit, nach Edinburgh zu reisen, um seine Zukünftige zu treffen, war aber bereit, nach Bellhurst Manor zu kommen, wo die Hochzeit stattfinden sollte, sofern alle Beteiligten einverstanden waren.
Ich nahm die silberne Haarbürste vom Nachtkästchen und begann gedankenverloren, meine Haare zu bürsten. Nachdem aus der Verbindung mit dem französischen Adel nichts geworden war, beabsichtigte der Herzog, sein Patenkind an einen reichen Kaufmann zu verschachern.
»Ich habe eine neue Aussteuer«, sagte Mary mit mattem Lächeln. »Dreiundvierzig bestickte Unterröcke... zwei mit Goldfäden.« Sie hielt inne, preßte die Lippen zusammen und starrte blicklos auf ihre unberingte linke Hand. Ich legte meine Hand auf die ihre.
»Vielleicht ist er ein guter Mensch«, versuchte ich ihr Mut zuzusprechen.
»Gerade d-davor habe ich ja Angst.« Sie wich meinem fragenden Blick aus, senkte die Augen und faltete die Hände im Schoß.
»Mr. Isaacson weiß nicht, was in... P-Paris geschehen ist. Und ich soll es ihm auch nicht sagen.« Unglücklich verzog sie das Gesicht. »Sie haben eine gräßliche alte Frau zu mir geschickt, die mir erklärt hat, wie ich mich in der H-H-Hochzeitsnacht verhalten
soll, damit es so aussieht, als wäre es das erstemal, aber ich... o Claire, wie kann ich das machen?« klagte sie. »Und Alex... ich konnte es ihm nicht sagen, ich habe es nicht über mich gebracht! Ich war so ein Feigling, ich h-habe ihm nicht einmal Lebewohl gesagt!«
Mary warf sich in meine Arme, und ich tätschelte ihr den Rükken. Bei dem Versuch, sie zu trösten, trat mein eigener Kummer ein wenig in den Hintergrund. Schließlich wurde sie ruhiger, setzte sich auf und trank etwas Wasser. Sie hatte einen Schluckauf bekommen.
»Wirst du ihn heiraten?« fragte ich. Sie sah mich an, ihre Wimpern waren feucht.
»Ich habe keine andere Wahl«, sagte sie schlicht.
»Aber...«, begann ich, hielt jedoch ratlos inne.
Mary hatte recht. Als junge Frau, ohne eigenes Vermögen und ohne Mann, der ihr beistand, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich den Wünschen ihres Vaters und ihres Paten zu beugen und den unbekannten Mr. Isaacson aus London zu heiraten.
Keine von uns hatte jetzt noch Verlangen nach den Speisen auf dem Tablett. Wir krochen unter die warmen Decken, und Mary schlief, vor Kummer erschöpft, nach wenigen Minuten ein. Obwohl ich mich nicht weniger ausgelaugt fühlte, fand ich keine Ruhe; die Trauer um Hugh, die Sorge um Jamie und die Rätsel, die sich um den Herzog rankten, hielten mich wach.
Die Laken waren klamm und meine Füße eiskalt. Um mich nicht mit schlimmeren Sorgen quälen zu müssen, dachte ich über Sandringham nach. Welche Rolle kam ihm in diesem Spiel zu?
Allem Anschein nach war er Jakobit. Wie er selbst zugab, war er bereit gewesen, einen Mord zu begehen - oder begehen zu lassen -, nur um zu gewährleisten, daß Charles die nötigen Mittel bekam, um nach Schottland aufzubrechen. Und die
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