Die Geliehene Zeit
ich konnte nichts dagegen tun. Jamie, wie er nackt und blutig in Eldridge Hall lag, wo wir Zuflucht gefunden hatten.
»Ich lasse mich nicht wieder fangen, Sassenach«, hatte er mit zusammengebissenen Zähnen geraunt, als ich ihm die gebrochene Hand einrenkte und seine Wunden säuberte. »Sassenach«, das gälische Wort für einen Fremden, einen Engländer. So hatte er mich von Anfang an genannt. Zunächst verächtlich, später voller Zuneigung.
Mit Hilfe von Murtagh, einem Mitglied des Fraser-Clans, hatte ich ihn verstecken und dann über den Kanal nach Frankreich bringen können. Dort fanden wir Schutz in der Abtei Ste. Anne de Beaupre, der ein Onkel von Jamie als Abt vorstand. Doch hinter
den sicheren Mauern des Klosters mußte ich feststellen, daß meine Aufgabe nicht damit endete, Jamie das Leben gerettet zu haben.
Die Demütigungen, die ihm Jonathan Randall zugefügt hatte, hatten sich in seine Seele eingebrannt wie die Lederpeitsche in sein Fleisch, und die Wunden schmerzten ebenso stark. Noch heute wußte ich nicht, wie es mir gelungen war, die bösen Geister zu bannen. Bei manchen Heilungen verwischen sich die Grenzen zwischen Medizin und Magie.
»Aber ich habe ihn geheilt«, sagte ich leise. »Er ist zu mir zurückgekommen.«
Ratlos schüttelte Brianna den Kopf, und den trotzigen Ausdruck, den sie dabei zeigte, kannte ich nur zu gut. »Die Grahams sind dumm, die Campbells sind verlogen, die MacKenzies sind bezaubernd, aber arglistig, und die Frasers sind stur.« Mit diesen Worten hatte mich Jamie einmal in seine Vorstellung über die Eigenschaften der einzelnen Clans eingeweiht. In einer Hinsicht hatte er recht gehabt: Die Frasers, und nicht zuletzt er, waren wirklich trotzig. Brianna auch.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte sie jetzt. Sie richtete sich auf und betrachtete mich. »Vielleicht hast du zuviel über die Soldaten von Culloden nachgedacht«, rätselte sie. »Schließlich war die letzte Zeit eine große Belastung für dich, und Daddys Tod...«
»Frank war nicht dein Vater«, sagte ich rundheraus.
»Doch!« schoß sie so unvermittelt zurück, daß wir beide überrascht auffuhren.
Frank hatte sich mit der Zeit der ärztlichen Meinung, daß jeder Druck, »mich der Realität zu stellen«, eine Gefahr für die Schwangerschaft bedeuten würde, gebeugt. Im Korridor vor meinem Zimmer wurden viele Gespräche geführt und hin und wieder wurde auch geschrien, doch schließlich gab er es auf, mich nach der Wahrheit zu fragen. Und ich, gesundheitlich angeschlagen und mit Sehnsucht im Herzen, hatte es aufgegeben, sie ihm zu erzählen.
Doch diesmal würde ich nicht aufgeben.
»Vor fast zwanzig Jahren«, fuhr ich fort, »bei deiner Geburt, habe ich Frank etwas versprochen. Ich wollte ihn verlassen, doch er ließ mich nicht gehen. Er hat dich geliebt.« Meine Stimme wurde weicher, als ich Brianna so vor mir sitzen sah. »Er wollte mir nicht glauben, doch natürlich wußte er, daß er nicht dein Vater war. Er hat mich darum gebeten, es dir nicht zu sagen. Solange er lebte,
wollte er dein Vater sein, und zwar der einzige. Danach hätte ich es in der Hand.« Ich schluckte und fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen.
»Das war ich ihm schuldig«, fuhr ich fort, »denn er hat dich geliebt. Aber jetzt ist Frank tot, und du hast ein Recht darauf zu wissen, woher du stammst. Wenn du es nicht glauben willst, dann geh in die National Portrait Gallery. Dort hängt ein Bild von Ellen MacKenzie, Jamies Mutter. Sie trägt das hier.« Ich berührte die Kette, die ich um meinen Hals trug. Unregelmäßig geformte Barockperlen aus schottischen Flüssen zwischen durchbohrten Goldplättchen. »Jamie hat sie mir zur Hochzeit geschenkt.«
Steif und aufrecht und unverkennbar empört saß Brianna da. »Nimm einen Handspiegel mit«, fuhr ich fort, »und betrachte zuerst das Porträt und dann dich selbst. Du bist deiner Großmutter zwar nicht wie aus dem Gesicht geschnitten, aber du ähnelst ihr sehr.«
Roger warf Brianna einen Blick zu, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Er blickte mich, dann sie, dann wieder mich an, und schließlich stand er auf.
»Hier ist etwas, was du lesen solltest«, meinte er dann. Rasch ging er zum alten Schreibtisch des Reverend und zog ein Bündel vergilbter Zeitungsausschnitte aus einem der Fächer.
»Achte auf das Datum«, erklärte er Brianna, als er es ihr gab. Dann wandte er sich zu mir um und musterte mich mit dem leidenschaftslosen Blick eines Gelehrten, der es gewohnt
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