Die Geliehene Zeit
stöhnen. Dann sank er in sich zusammen, bis sein Kopf auf der Tischplatte lag. Er schloß die Augen und war dankbar, daß die Tischplatte seine Stirn kühlte.
»Kannte Fiona den Namen der Frau?« fragte er mit geschlossenen Augen.
»Sie heißt Gillian Edgars«, antwortete Claire. Er hörte, wie sie aufstand, durch das Zimmer ging und ihr Whiskyglas auffüllte. Als sie zurückkam, blieb sie vor dem Tisch stehen. Er spürte ihren Blick im Nacken.
»Die Entscheidung liegt bei Ihnen«, sagte Claire. »Sollen wir sie suchen?«
Langsam hob Roger den Kopf und blinzelte sie ungläubig an. »Sollen wir sie suchen?« wiederholte er. »Wenn das... wenn das alles wahr ist, dann müssen wir sie finden! Wir können sie doch nicht in die Vergangenheit reisen lassen, damit sie bei lebendigem Leibe verbrannt wird! Natürlich müssen wir sie finden«, brach es aus ihm heraus. »Wie können Sie eine andere Möglichkeit auch nur in Betracht ziehen?«
»Und wenn wir sie gefunden haben?« entgegnete Claire. Sie legte
ihre schlanke Hand auf die vergilbte Tafel und blickte ihn an. »Was wird dann aus Ihnen?« fragte sie leise.
Roger ließ den Blick hilflos über das helle, vollgestopfte Studierzimmer, die Pinnwand voller Erinnerungsstücke, die angeschlagene Teekanne auf dem alten Eichentisch gleiten. Ohne es zu merken, krallten sich seine Finger in seine Oberschenkel, als wollte er sich versichern, daß er ebenso real war wie der Stuhl, auf dem er saß.
»Aber... ich bin echt!« brach es aus ihm heraus.»Ich kann mich doch nicht einfach in Luft auflösen!«
Claire runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich weiß nicht, was in diesem Fall geschehen würde. Vielleicht wären Sie nie geboren worden? Aber wie auch immer, Sie sollten sich nicht so aufregen! Vielleicht würde der Teil, der Sie unverwechselbar macht, Ihre Seele oder wie Sie es nennen wollen, vielleicht würde dieser Teil auf jeden Fall existieren. Sie wären Sie, auch wenn Sie eine etwas andere Abstammung hätten. Wieviel von unserer körperlichen Erscheinung kann wohl noch auf unsere Vorfahren vor sechs Generationen zurückgeführt werden? Die Hälfte? Zehn Prozent?« Sie zuckte die Achseln und schürzte die Lippen, wobei sie ihn aufmerksam musterte.
»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, haben Sie die Augen von Geillis. Aber ich erkenne auch Dougal in Ihnen. Zwar keine bestimmten Züge, obwohl Sie wie Brianna die hohen Wangenknochen der MacKenzies haben. Nein, es ist schwer zu fassen - etwas in der Art, wie Sie sich bewegen, eine Geschmeidigkeit, Wendigkeit - nein...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht beschreiben, aber es ist da. Brauchen Sie es, damit es Sie zu dem macht, der Sie sind? Wären Sie ohne diesen Anteil von Dougal derselbe Mensch?«
Schwerfällig stand sie auf. Zum erstenmal, seit er sie kennengelernt hatte, wirkte sie so alt, wie sie war.
»Seit mehr als zwanzig Jahren suche ich nach Antworten, Roger. Trotzdem kann ich nur eines sagen: Es gibt keine Antworten, nur Entscheidungen. Eine ganze Anzahl davon habe ich getroffen, und niemand weiß, ob sie richtig oder falsch waren. Aber ich weiß, daß es richtig war, es Ihnen zu sagen und die Entscheidung Ihnen zu überlassen.«
Roger nahm sein Glas und trank den letzten Schluck Whisky.
Im Jahr des Herrn 1968. Das Jahr, in dem Geillis Duncan in den
Steinkreis treten würde. In dem sie den ersten Schritt auf einem Weg tat, der sie zu den Ebereschen in den Bergen unweit von Leoch führen würde. Zu einem außerehelichen Kind und dem Tod durch die Flammen.
Roger stand auf und wanderte vor den Bücherregalen, die an den Wänden des Studierzimmers standen, auf und ab. Bücher zur Geschichte, dieser trügerischen Wissenschaft, die einen Gelehrten immer wieder zum Narren hielt.
Ruhelos strich er über die Bände im obersten Regal. Es waren Werke über die Jakobiten, über die Aufstände von 1715 und 1745/ 1746. Claire hatte einige der Männer und Frauen, über die in diesen Büchern berichtet wurde, gekannt. Hatte mit ihnen gelitten und gekämpft, um ein Volk zu retten, dem sie nicht angehörte. Hatte alles verloren, was ihr teuer war. Und war schließlich doch gescheitert. Aber sie hatte ihre Entscheidung selbst getroffen, so wie er jetzt die seine treffen mußte.
Bestand die Möglichkeit, daß alles nur ein Traum war, eine Täuschung? Verstohlen warf er Claire einen Blick zu. Sie hatte sich im Sessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Die einzige Regung, die sie zeigte, war der kaum
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