Die Geliehene Zeit
starrte er in das dunkle Zimmer.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte ich. »Geht es dir gut?«
Ich fragte mich, ob er schlafwandelte, denn sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er blickte geradewegs durch mich hindurch, und das, was er sah, schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen.
»Jamie,!« rief ich. »Jamie, wach auf!«
Da blinzelte er und blickte mich mit der Verzweiflung eines gejagten Tieres an.
»Mir geht’s gut«, erklärte er. »Ich bin wach.« Das klang, als wollte er sich selbst davon überzeugen.
»Was ist los? Hattest du einen Alptraum?«
»Einen Traum. Aye, es war ein Traum.«
Ich legte ihm die Hand auf den Arm.
»Was hast du geträumt? Der Eindruck verschwindet, wenn du davon erzählst.«
Sein Griff, mit dem er mich an den Unterarmen packte, bat um meine Hilfe und hielt mich zugleich von sich fern. Im Schein des
Vollmonds sah ich, daß seine Muskeln angespannt waren. Sein Körper war reglos wie Stein. Gleichzeitig bebte er vor unterdrückter Wut.
»Nein«, erwiderte er, noch immer nicht ganz wach.
»Doch«, beharrte ich. »Jamie! Sprich mit mir. Sag mir, was du siehst.«
»Ich kann nicht... ich sehe nichts. Ich kann nichts sehen.« Ich zog ihn aus den Schatten in den hellen Mondschein am Fenster. Das Licht schien ihm zu helfen, denn sein Atem wurde ruhiger. Stockend und schmerzerfüllt begann er zu sprechen.
Jamie hatte von dem steinernen Verlies in Wentworth geträumt. Und während er sprach, war es plötzlich, als stünde Jonathan Randall im Zimmer, als läge er nackt auf der Wolldecke unseres Bettes.
In seinem Traum hatte Jamie Randalls stoßweisen Atem gehört und den schweißnassen Körper auf seiner Haut gespürt. Verzweifelt hatte er die Zähne zusammengebissen. Der Mann hinter ihm hatte es bemerkt und gelacht.
»Noch ist es nicht so weit, daß wir dich hängen, mein Junge«, flüsterte er. »Erst wollen wir noch ein bißchen Spaß miteinander haben.« Randall bewegte sich ruckartig und brutal, und ohne es zu wollen, stöhnte Jamie auf.
Randall strich ihm das Haar aus der Stirn und schob es ihm hinters Ohr. Sein heißer Atem streifte Jamies Haut. Um ihm auszuweichen, drehte er den Kopf fort, doch Randalls heisere Stimme folgte ihm.
»Hast du schon mal gesehen, wie man einen Mann hängt, Fraser?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter. Dabei strich seine lange schlanke Hand über Jamies Hüfte, fuhr die Rundung seines Bauches nach und wanderte bei jedem Wort weiter abwärts.
»Natürlich hast du das. Du warst in Frankreich und hast hin und wieder zugesehen, wie man einen Fahnenflüchtigen hinrichtet. Ein Gehängter läßt seinen Darminhalt fahren, nicht wahr? Im selben Augenblick, wo sich die Schlinge um seinen Hals zusammenzieht.« Die Hand griff zu, fest und zart zugleich, reibend und liebkosend. Jamie klammerte die gesunde Hand um den Bettpfosten und vergrub das Gesicht in der harten, kratzigen Wolldecke. Doch die Worte verfolgten ihn.
»Und genauso wird es dir ergehen, Fraser. Noch ein paar Stunden, und dein Hals steckt in der Schlinge.« Voller Genugtuung lachte der Mann auf. »Und wenn du in den Tod gehst, brennt dein Arsch von meinen Vergnügungen, und wenn sich dein Darm entleert, ist es mein Saft, der dir die Beine entlangläuft und auf den Boden unter dem Galgen tropft.«
Jamie gab keinen Laut von sich. Er roch sich selbst - den Gestank, der sich im Lauf seiner Gefangenschaft an ihn geheftet hatte und sich nun mit dem Geruch des Angstschweißes und der Wut mischte. Und dazu der zarte Duft des Lavendelwassers des Mannes hinter ihm.
»Die Decke«, sagte Jamie. Sein Gesicht war angespannt. »Sie kratzte an meinem Gesicht, und ich sah nichts anderes als die Wand vor mir. Nichts, woran ich mich innerlich festhalten konnte... nichts, rein gar nichts. Und so schloß ich die Augen und dachte an die Decke unter meiner Wange. Sie war alles, was ich in meinem Schmerz noch spürte... außer ihm. Und... ich hielt mich daran fest.«
»Jamie! Jetzt kannst du dich an mir festhalten.« Um seine Erregung einzudämmen, sprach ich leise. Sein Griff war so fest, daß alles Blut aus meinem Arm wich. Er hielt sich an mir fest, zugleich aber von mir fern.
Plötzlich ließ er meinen Arm los, wandte sich ab und blickte zum Vollmond, der durchs Fenster schien. Gespannt und doch bebend, wie ein Bogen, von dem gerade ein Pfeil abgefeuert worden war, stand er da. Trotzdem klang seine Stimme ruhig.
»Nein, ich will dich nicht ausnutzen, Mädel. Du sollst da nicht
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