Die Geliehene Zeit
hatte man sogar die Königin herbeizitiert, die ansonsten auf irgendeinen Landsitz verbannt war, um sich dort nach bestem Vermögen die Zeit zu vertreiben. Jetzt sprach sie mit ihrem Gast, wobei ihr zartes, ängstliches Gesicht angesichts der ungewohnten Aufgabe vor Aufregung glühte.
Doch am meisten interessierte mich das junge Mädchen, das hinter der Herzogin stand. Trotz ihrer schlichten Kleidung war sie von einer zarten Schönheit, die alle Blicke auf sich zog. Sie war klein und zierlich, aber hübsch gerundet. Mit ihrem dunklen, glänzenden, ungepuderten Haar, der außergewöhnlich hellen Haut und ihren rosig angehauchten Wangen erinnerte sie an ein Blütenblatt.
Ich dachte an ein Kleid aus einem leichten Baumwollstoff, bedruckt mit roten Mohnblumen, das ich einmal besessen hatte. Diese Erinnerung rief unerwarteterweise einen heftigen Anfall von Heimweh in mir hervor, und während in meinen Augen Tränen der Sehnsucht brannten, klammerte ich mich an der Lehne einer Marmorbank fest. Es mußte am Klang der englischen Sprache liegen. Nachdem ich monatelang nichts anderes gehört hatte als das schleppende Schottisch und das Gegacker der Franzosen, erweckte das Englisch der Besucher in mir heimatliche Gefühle.
Und dann sah ich ihn. Während meine Blicke ungläubig über die elegante Form des Schädels und die unter all den gepuderten Perükken hervorstechenden dunklen Haare glitten, wich alles Blut aus meinem Kopf. Alarmglocken schrillten in meinem Kopf wie die Luftschutzsirenen in London, und widersprüchliche Stimmen stritten
in mir, wie dieser Anblick zu deuten war. Bei der Krümmung der Nase rief mein Unterbewußtes: »Frank!«, und jede Faser in mir sehnte sich danach, auf ihn zuzueilen und ihm in die Arme zu fallen. »Das kann nicht sein«, tönte mein Geist. Gleichzeitig beobachtete ich wie erstarrt das vertraute halbe Lächeln, das den Mund umspielte. »Du weißt genau, daß es nicht Frank ist!« Und dann verknotete sich mein Magen in einem plötzlichen Anfall von Panik, als die Logik Instinkt und Wissen überholte. Das Undenkbare wurde zur Gewißheit. Frank konnte es nicht sein. Doch wenn es nicht Frank war, dann...
»Jonathan Randall!« Dies kam nicht von mir, sondern seltsam ruhig und beherrscht von Jamie. Aufmerksam geworden durch mein eigenartiges Verhalten, war er meinem Blick gefolgt und hatte das gleiche gesehen wie ich.
Kein Muskel regte sich in ihm. Soweit ich das in meiner Panik beurteilen konnte, holte er nicht einmal Luft. Am Rande nahm ich wahr, wie ein Dienstbote in unserer Nachbarschaft neugierig auf die hohe Gestalt des schottischen Kriegers blickte, der erstarrt war wie eine Statue des Mars. Doch meine Sorge galt einzig und allein Jamie.
Er wirkte wie ein Löwe auf der Pirsch, der mit der Steppe verschmilzt und den Blick starr und ungerührt auf sein Ziel gerichtet hält. Doch in den Tiefen seiner Augen funkelte es. Die Anspannung einer Raubkatze, die sich anschleicht; das winzige Beben in der Schwanzspitze, bevor sie zum Angriff ansetzt.
Vor den Augen des Königs die Waffe zu ziehen bedeutete den sicheren Tod. Murtagh befand sich in einem Teil des Parks, der zu weit entfernt lag, um ihn zu Hilfe zu rufen. Zwei Schritte nur, und wir wären in Randalls Reichweite. Nahe genug, um ihn anzugreifen. Ich legte Jamie die Hand auf den Arm. Der war ebenso hart wie der Schwertgriff, den er umklammert hielt. Das Blut toste in meinen Ohren.
»Jamie«, sagte ich. »Jamie!« Und dann verlor ich das Bewußtsein.
10
»Eine Dame mit üppigem braunen Lockenhaar... ohne Datum«
Ich tauchte aus einem flirrenden gelben Nebel aus Sonnenlicht, Staub und Erinnerungsfetzen auf und war vollkommen verwirrt.
Über mich gebeugt sah ich Frank, der mit sorgenvollem Gesicht meine Hand hielt. Nur daß es nicht Frank war. Die Hand, die die meine umfaßte, war viel größer als die von Frank, und meine Finger spürten drahtiges, festes Haar am Handgelenk. Franks Hände jedoch waren glatt wie die eines Mädchens.
»Alles in Ordnung?« Ich erkannte Franks beherrschte Stimme. »Claire!« Diese tiefere und rauhere Stimme hörte sich gar nicht nach Frank an. Sie klang auch nicht beherrscht, sondern ängstlich, ja entsetzt.
»Jamie.« Endlich fand ich den Namen, der zu dem Bild vor meinem geistigen Auge paßte. »jamie! Nicht...« Mit einem Ruck setzte ich mich auf und blickte verwirrt von einem Gesicht zum nächsten. Ich fand mich umgeben von einem Kreis neugieriger Höflinge, von denen sich einige etwas tiefer und
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