Die gelöschte Welt
monströsen Geländewagen, auf den ein schweres Maschinengewehr montiert ist. An der Kanone sitzt eine kräftige, muskulöse Frau, die Gonzo Annabel nennt, während alle anderen sie Ochse rufen. Offensichtlich brüllt sie etwas gegen den Wind.
Bis zu diesem Tag hatte ich angenommen, die Spezialeinheiten seien eine männliche Domäne, und zweifellos traf dies früher auch zu, aber Annabel der Ochse ist nicht die Einzige in Gonzos Einheit. Es gibt auch noch eine hübsche Frau mit langen Gliedmaßen und kalten Augen, die meist Sally und manchmal auch Eagle genannt wird. Sie trägt ein khakifarbenes Namensschild, auf dem »Culpepper« steht, und kam mit einem über die Schulter geschlungenen Gewehr zum Treffpunkt. Sally/Eagle fährt neben Gonzo und gibt gelegentlich Anweisungen für Kurskorrekturen, meist aber beobachtet sie die Umgebung mit einem großen Fernglas und lenkt Annabels Aufmerksamkeit auf kleine Wärmequellen, die möglicherweise mit der .50er BMG beharkt werden müssen. Die Mündungsgeschwindigkeit und der Drall der Kanone sind so unglaublich hoch, dass ein knapper Fehlschuss einen ebenso sicher umbringt wie ein Volltreffer.
Die »kleinen Wärmequellen« muss man hier als »Menschen« deuten, obwohl die meisten bisher in Wirklichkeit ebenso müde wie nervöse Schafe waren. Eine Kampfzone ist kein angenehmer Ort für ein Schaf. Eigentlich ist es für überhaupt kein Wesen ein angenehmer Ort, aber Schafe sind im Allgemeinen etwas dumm und besitzen kaum taktischen Scharfsinn und dazu wenig individuelle Vernunft. Sie neigen dazu, Probleme durch Versuch und Irrtum zu lösen. Schafe wandern umher, und wo es Landminen gibt, ist das Herumwandern dem Überleben eher abträglich. Wenn das erste Herdenmitglied in die Luft geflogen ist, verteilen sich die übrigen Schafe instinktiv, um das Raubtier zu verwirren, was aber nur dazu führt, dass noch mehr Kollegen auf Minen treten und abermals das satte, saftige Knallen ertönt, woraufhin mehrere Schafe in die Luft fliegen und sich in ihre Bestandteile zerlegen. Das größte Einzelstück fällt meist als halb verflüssigter Klecks wieder herab. Diese Geräusche und ihre Begleiterscheinungen bringen die verbliebenen Schafe nur noch mehr durcheinander, und erst wenn ein paar weitere in der Gegend heruntergeregnet sind, kommen sie auf die Idee, dass es besser wäre, den Rückzug anzutreten. Leider haben sie bis dahin schon vergessen, wo die richtige Richtung ist. Also geht es wieder von vorne los. Bumm. Die erste Erkenntnis ist, dass Schafe ein Albtraum sind, wenn Sie versuchen, eine Perimeterverteidigung einzurichten, weil die Tiere letzten Endes mitten hindurchmarschieren. Ihre herumliegenden Körperteile zeigen allen anderen Kunden, wo der Weg frei ist. Aus diesem Grund sind viele Offiziere dazu übergegangen, eine Massenhinrichtung von frei laufenden Schafen anzuordnen, sobald sie eine Stellung befestigen. Damit ziehen sie natürlich den Groll einheimischer Schäfer auf sich und erzeugen noch eine weitere Gruppe von erbosten bewaffneten Menschen, die auf alles schießen, was eine Uniform trägt. Vor diesem Hintergrund hat sich George Copsen entschieden, das Leben der Schafe zu verschonen, weil er hofft, Baptiste Vasille oder Ruth Kemner würden mit dem Ovizid beginnen (ich weiß allerdings nicht, ob dies das richtige Wort für einen Schafmassenmord ist) und unter den Konsequenzen leiden. Bisher ist nichts dergleichen geschehen; vielmehr hat sich eine Art unerbittlicher kalter Krieg um das Vieh entwickelt, in dem jeder die Schafe in Richtung der anderen Truppen treibt und hofft, diese würden mit dem Gemetzel beginnen. Die anderen treiben die Tiere mit mehr oder weniger den gleichen Absichten wieder zurück. Es gibt bereits Wetten darüber, welcher Gebietskommandant als Erster ausrastet. Die meisten haben auf Ruth Kemner gesetzt, die offenbar eine recht beängstigende Frau ist.
Die zweite Erkenntnis, die aus akademischer Sicht noch interessanter ist, während sie in der realen Welt als völlig irrelevant gelten muss, ist die Tatsache, dass sich Schafe, die in einem schwer verminten Gebiet eine Weile überleben, allmählich entwickeln, bis sie nach einiger Zeit intelligente, kampfgestählte Schafe sind, die möglicherweise über ein Sonar verfügen, mit dem sie die Erde untersuchen, außerdem über extrem lange Beine, mit denen sie über verdächtige Gegenstände hinwegsteigen können, und über große, flache Füße, die den Druck gleichmäßig verteilen, um den
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