Die gelöschte Welt
Zünder nicht auszulösen. Ein solches Kriegsschaf wäre eine Kreuzung zwischen einem Delfin und einem kleinen, geschmeidigen Elefanten.
Die Schafe, die uns derzeit umgeben, hatten noch nicht genug Zeit, sich körperlich weiterzuentwickeln. Vielmehr haben sie zunächst neue Verhaltensweisen und Bewältigungsstrategien entwickelt. Sie folgen den Menschen, bewegen sich langsam und haben die Gemeinschaft der Herde zugunsten einer lockeren Gruppierung einzelner Schafe aufgegeben, die genau beobachten, ob die anderen auf einmal in die Luft fliegen und sich über ein größeres Gebiet verteilen. Manche laufen auch im Gänsemarsch hintereinander. Ein lauter Knall erschreckt sie nicht mehr. Oder vielleicht sind sie auch taub geworden. Außerdem wirken sie sehr aufmerksam und wachsam und wissen anscheinend genau, wo sie gerade entlanggelaufen sind, sodass sie sich auf ihren eigenen Spuren wieder zurückziehen können. Der Fortschritt hat sogar die Schafe von Addeh Katir erreicht.
Kurz vor dem Roten Tor gibt es ein altes Katiri-Dorf, vielleicht ist es auch ein Bazar oder eine Mischung aus beidem. Es liegt nahe genug an unseren Stellungen, um noch von unserer Verteidigung gedeckt zu werden, aber doch weit genug entfernt, um nicht selbst zum Ziel zu werden. Der Ort heißt Fudin, was man in der melodiösen Sprache von Addeh Katir in einem ehrfürchtigen Singsang aussprechen muss. Fudin ist mehr als ein Name, es ist ein Stück aus einem Lied.
Gonzo führt uns nach Fudin, um noch einige Zutaten für die Feier zu beschaffen, und außerdem, weil der von einer gewölbten Decke überdachte Markt eines der letzten Bauwerke in ganz Addeh Katir ist, dem man noch entnehmen kann, welche Pracht sonst überall unter Ruinen begraben liegt. Der Bau ist wie eine gotische Kathedrale gestreift, strahlend blau wie ein babylonischer Palast und voller Teiche und Alkoven. Außerdem ist es natürlich ein wichtiger Stützpunkt (vielleicht sogar ein Fäulnisherd) des Schwarzmarkts. Erwin Kumar und wahrscheinlich auch unsere eigene Regierung wären sicher ziemlich sauer, wenn sie wüssten, dass er hier unter unserem Schutz floriert. Wir haben das Dorf erobert (eigentlich aber auch nicht, denn wir führen einen Nicht-Krieg und besetzen keine Orte, sondern leben einfach nur in der Nähe und stellen Mitarbeiter und Polizei). In Wirklichkeit gehört es aber Zaher Bey.
Dies ist die beste Annäherung an ein neutrales Gebiet, die es in Addeh Katir überhaupt gibt. So wandern wir, von den übrigen Besuchern ignoriert, umher. Ich rieche Speck und gebratenes Fleisch, Früchte, und etwas Stechendes und Aufregendes, das ich nicht benennen kann. Der Markt ist mit Kerzen und Öllampen beleuchtet, die an Haken an den gekachelten Wänden hängen. Die Laternen sind womöglich älter als ich und hängen sicher schon sehr lange hier. (Leahs Schulter passt perfekt unter meinen Arm. Ich spüre sie neben mir, ihre Hand in meinem Kreuz. Ich streichle leicht ihre Hüfte, und sie erschauert.)
Mit donnerndem Händeklatschen bittet ein dunkeläugiger Mann mit glitzerndem Hut und schönem weißem Hemd um unsere Aufmerksamkeit. Als wir ihn ansehen, kommt er uns federnden Schrittes entgegen, umarmt uns alle auf einmal, als hätte er schon tagelang auf uns gewartet, und fragt, wo wir nur so lange gesteckt hätten. Das Hemd spannt sich über dem ansehnlichen Bauch, bis der unterste Knopf den Kampf verloren gibt. Ein Streifen glatte, braune und erschreckend nackte Haut erscheint. Er riecht nach …
»Safran! Ja! Wir sind die Safranleute und waren es schon, bevor die Briten kamen!«, trompetet er. »Wir waren schon immer die Safranleute. Unsere Kinder werden mit einem Safranherzen geboren, unsere Mütter singen uns Gewichte und Maße vor, bis wir einschlafen. Es gibt keine anderen echten Safranleute in Addeh Katir. Fudin ist der Ort, an dem der Safran verkauft werden will.« Er beugt sich grinsend vor. »Wenn Sie irgendwo in ganz Asien (abgesehen vom verdammten Russland, das ein verrücktes Land voller Kinder von Bären und willigen Frauen aus dem Eis ist) ein Beutelchen mit Safran in die Luft werfen, dann wird der Safran mit dem Wind ziehen, bis er hier in Fudin wie Regen fällt. Und ich, Rao Tsur, werde dann mit einem Kästchen draußen stehen, ihn auffangen und in seiner Heimat begrüßen. Wir kennen das geheime Flüstern des Safrans, wir lieben ihn und hüten ihn und verkaufen ihn nur an jene, die ihn verdient haben, und zwar immer zu einem fairen Preis …« Er betrachtet
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