Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
Vom Netzwerk:
und der jetzt die Aufgabe übernommen hat, möglichst schon vorgestern herauszufinden, was hier eigentlich los ist. Die beiden kehrten mit einer vollen Ausbildung im Rücken in ihre Heimat zurück und hatten die Absicht, gemütlich zu leben und ungeheuer dick zu werden. Doch just als sie eintrafen, wurde der letzte Maharadscha abgesetzt, und Erwin Kumar der Prachtvolle übernahm sein Amt als Präsident und Marionette. Sofort erkannten sie die unangenehme Natur dieses neuen Regimes und wohin dies führen würde, und beschlossen, ihm aus dem Weg zu gehen und es zu piesacken, so gut es ihre nicht unbeträchtlichen Fähigkeiten zuließen.
     
    Die ersten Tage sind sehr hart und eigenartig. Wir suchen uns Stellen, an denen wir uns ausruhen und womöglich sogar etwas schlafen können. Auf jeder freien Fläche und in jeder Nische drängen sich Menschen. Sally Culpepper und Jim Hepsobah bauen sich Hängematten, in denen sie hoch über dem Steinboden schlafen können. Ich versuche es auch, aber mir tut der Rücken davon weh. Schließlich wandere ich nachts umher und schlafe tagsüber, wenn mehr Platz auf dem Boden ist. Die Burg zerfällt offenbar in drei Teile – Zaher Bey und seine Mönche beanspruchen das obere Stockwerk in der Nähe des Turms. Gonzos Leuten, also uns, gehören die Eingangshalle und der zerstörte Balkon. Die geflohenen Katiris verteilen sich im Inneren des Gebäudes, obwohl das Wort »verteilen« den Eindruck erweckt, sie wären weniger dicht gedrängt, als es tatsächlich der Fall ist. Leah und ich besuchen noch einmal das Zimmer, in dem wir unsere Nacht verbracht haben. Dort wohnen jetzt drei katirische Familien, darunter zwei verletzte Männer und eine alte Frau, die vor Zorn spuckt und stammelt. Wir nicken respektvoll, als sie uns erzählt, unsere Mütter seien von wilden Hunden besprungen worden, und wir bemühen uns, nicht den Geruch von Blut und Schweiß einzuatmen, der von ihrem Neffen und seinem Freund aufsteigt. Die Alte – obwohl sie vor ein paar Tagen noch eine Matrone war und es hinter Schmutz und Erschöpfung vielleicht auch noch immer ist – brüllt uns an, und der Neffe übersetzt freundlicherweise mit monotoner Stimme. Er spart sich die Mühe, die Wörter besonders zu betonen, sondern übermittelt sie uns einfach nur, damit wir uns nach Belieben Selbstvorwürfe machen können.
    »Meine Söhne, ihr habt mir meine Söhne genommen. Und wozu? Wozu denn? Das waren meine Söhne, die ich geliebt habe. Ich habe keine anderen. Auch Töchter habe ich nicht, nicht mehr. Alle sind fort. Ihr habt sie uns genommen. Sie sind fort.« So geht es endlos weiter und klingt, als wäre er gelangweilt. Und er bringt sich selbst nicht ein, bis sie den Höhepunkt erreicht und eine lange Reihe von Flüchen über unseren Samen, unser Land, unsere Heimat und unsere Häuser ausstößt. Wir sind verflucht, bis Gott mit rotem Blut den Himmel reinwäscht und sein Urteil mit großen Feuerzungen spricht. An diesem Punkt erklärt er uns, seine Tante sei wütend. Auch er sei natürlich wütend. Er hebt den Kopf, um es uns zu zeigen, aber in seinen Augen klafft vor allem eine große Leere. Als er erkennt, dass wir es sehen, zuckt er mit den Achseln.
    »Ich habe beobachtet, wie das Land gefressen wurde«, sagt er, als würde das etwas erklären. Dann umfängt er seine Tante sanft mit den Armen und hält sie, bis sie Rotz und Speichel an seine Brust weint. Als wir gehen, löst sie sich von ihm und scheucht uns in kleinen Sprüngen wie eine erboste Hauskatze über den Flur. Leah führt mich fort, aber die Tante setzt uns mit ruckartigen Bewegungen nach, als würde sie von einem Faden gezogen. Sie hebt zu einer neuen, entsetzlichen Tirade an, und bald folgt uns eine Meute von finsteren Männern und verdrossenen Frauen.
    Unsere Flucht führt uns zu einem Innenhof mit glatten Steinplatten. Hier gibt es zwischen den Trümmern eines gekachelten Springbrunnens eine Quelle, und natürlich sitzen hier auch alle, die uns nicht drohend folgen, bunt durcheinander und übereinander auf Kisten und Kojen und bilden eine kleine Stadt, die wie ein Bienenstock summt. Als wir eintreten, wird es ziemlich still, aber die Tante stört die Stille mit schrillem Kreischen. Zum ersten Mal betrachte ich die Einwohner von Addeh Katir von Angesicht zu Angesicht und nicht aus der sicheren Höhe eines gepanzerten Konvois. Mir dämmert, dass sie ihren Zorn in dieser Situation vielleicht offener zeigen. Ein junger Mann hebt eine Art Stock auf, das Gerät

Weitere Kostenlose Bücher