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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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eines Bauern, das zum Dreschen und zum Führen von Tieren dient, aber manchmal wohl auch dazu, Feinde zu erschlagen. Auf einmal ertönt mitten auf dem Hof ein zorniger Schrei. Alle drehen sich um.
    »Bei allen Hurensöhnen, was ist das?« Eine vertraute Gestalt starrt entsetzt ein Kleinkind in einem zerlumpten blauen Pyjama an. Selbst wenn das Kind rohes Fleisch gegessen hätte, einen so großen Widerwillen hätte es nicht verdient.
    »Das ist furchtbar! Unnatürlich! Woher ist das gekommen? Nein, sag es mir nicht, dieses Haus ist voller passender Männer. Ich werde einfach den Einzigen suchen, der gebrochen ist und blutet, weil er derjenige sein muss, den du in dein Bett gelassen hast. Oder war es meins? Mein Bett? Aber wie hast du ihn so schnell zur Welt gebracht? Na? Antworte mir! Das waren doch keine neun Monate, du unvergleichliche Dirne, nein, du hast nur wenige Stunden gebraucht, um noch ein weiteres böses Gör hervorzubringen! Wenn ich mich umsehe, finde ich sicher noch die Schale, aus der es geschlüpft ist. Du bist ein Dämon, genau! Ein Wesen aus dem roten Inferno, wo die Incubi und Satyrn und die Frauen mit den Spinnenbeinen in stinkenden Nebeln hausen! Oh, armer Rao Tsur, du bist mit einem schwefligen, brünstigen Widersacher vermählt! Es wäre ja nicht so schlimm, wenn sie wenigstens kochen könnte, aber so …«
    »Du Trottel! Wie du genau weißt, stammt dieses Kind von dir. Es wurde vor zwei Jahren geboren. Ja, genau. Oh, bei der Liebe … musst du denn deine Geistesschwäche vor dem ganzen Haus ausbreiten? Ja, offensichtlich musst du das. Du hast ihn Jun genannt und wie eine Flusskröte für ihn gegurgelt, wenn du dich hättest um die Gewürze kümmern müssen. Monatelang wurde kein Kunde bedient, wenn er es versäumte, diesen kleinen Gauner anzuhimmeln. Er aber hat sie angespuckt und sich übergeben. Hat ihnen unaussprechliche Dinge hinterhergeworfen, als sie flohen. Eines Tages wird er ein Verkäufer werden wie sein Vater, ja, der unsere Kunden achtkantig auf die Straße wirft. So lebten wir in großer Not. Aber, Rao Tsur, auch wenn sich dein verwöhnter Gaumen so wenig für die Genüsse meiner Küche interessiert, wie dein leeres Herz Liebe für dein leidendes Weib empfindet, dieses Kind ist auch meines. Wir haben zusammen geschlafen, du und ich. Ich sagte geschlafen – doch wir haben uns gepaart. Ja, schau nur verlegen drein, aber es war keine große Sache. Kaum der Rede wert. All das Schnaufen und Grunzen, das hätte ich allein wohl besser gekonnt!«
    »Oh, wirklich? Eine Jüngerin des Onan ist Veda Tsur. Eine Solistin! Wie erstaunlich! Dabei hat sie, wenn ich mich recht erinnere, ihr Rückgrat durchgebogen und mir ihre kaum erwähnenswerten Brüste dargeboten, und aus ihrem offenen Mund drang ein Lärm, bei dem die Milch sauer werden und einer Katze das Trommelfell platzen konnte!«
    »Ha! Du gibst es also zu! Du hast dich auf mich gestürzt! Dunkel sind deine Leidenschaften, Rao Tsur, während ich mich friedlich meiner tugendhaften Tage zu entsinnen suchte. O ja, und wie ich geschrien habe! Gut möglich, dass ich um Hilfe rief. Kein Wunder, dass ich dann mit diesem garstigen Gör schwanger wurde, das du …« Ihr Mann reißt die Augen weit auf, und Veda Tsur hält abrupt inne. Sie hat jenen peinlichen Punkt schon überschritten, an dem sämtliche Gespräche, die an einem öffentlichen Ort stattfinden, unvermittelt aufhören, während nur das eigene unbedacht weitergeht, bis man in die dröhnende Stille alle möglichen Geheimnisse hinausposaunt. »Ziemlich fett von der Hüfte an abwärts, sicher, aber das konnte man wegen des Drumherums nicht erkennen« – dies sagte ich einmal viel zu laut in einem Vorlesungssaal, in dem meine Lehrer versammelt waren. Ich hatte über Dinosaurier, Vögel und die Evolution gesprochen. Aber das versuchen Sie mal hundert aufgebrachten Dozenten zu erklären.
    Veda Tsur schlurft ein Stück, betrachtet ihre Füße. Dann dringt ein mädchenhaftes, verlegenes Kichern über ihre vollen sinnlichen Lippen. Auch Rao Tsur scharrt unbehaglich mit den Füßen. Die Katiris starren beide an. Abgesehen von einem Froschregen oder einem Sonnenaufgang im Norden lässt sich so etwas kaum überbieten. Nicht einmal in dieser Situation. Rao Tsur murmelt etwas wie »Na schön«, aber eigentlich fällt ihm nichts mehr ein. Linkisch nimmt er seine Frau in den Arm und hebt das eigensinnige Kind hoch, das Anlass zu ihrer Debatte gab. Ein paar weitere Kinder tauchen unter Kisten und

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