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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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ich mich zuerst, weil der heiße Kaffee an den Seiten herauskam. Hellen Fust nahm mir die Kanne ab und drehte den Deckel zweimal, bis ein kleiner Pfeil genau nach vorn wies. Dann gab sie mir die Kanne zurück. Der Kaffee strömte in einem breiten Strahl genau so heraus, wie er sollte. Ich kam mir vor wie ein Idiot. Dann begann es.
    »Ich denke, wir stimmen alle darin überein, dass dies ein sehr bedeutender Augenblick ist«, eröffnete Ricardo van Meents die Sitzung. Wie ein Frosch legte er die Finger flach auf den Tisch, schob den Daumen über die spiegelnde Fläche, hinterließ einen Abdruck und wischte ihn mit dem Ärmel wieder ab. Sonst sagte er nichts. Hellen Fust nickte, und dann ergriff sie das Wort, auch wenn es mir nicht wie eine Ansprache vorkam. Eher wie eine Reihe von Dingen, die gesagt werden müssen, ehe etwas getan wird, wie etwa die letzten Rituale, bevor der Henker die Falltür öffnet. Es war eine Hinrichtung.
    Hellen Fust nutzte die Struktur eines Besinnungsaufsatzes, um eine Gräueltat anzukündigen. Sie beschönigte nichts und appellierte auch nicht an unseren Patriotismus, sie stieß keine Verwünschungen gegen die Feinde aus und hatte keinerlei Schaum vor den Mund. Eigentlich war sie sogar sehr vernünftig. Wenn man ihren vernünftigen Überlegungen bis zu Ende folgte, kam man dabei aber leider zu einem Ergebnis, das man nicht vertreten konnte. Es lief folgendermaßen ab:
     
    1. Sie erklärte uns, wer wir waren und wer sie war. Sie bedauerte, dass die Verantwortung für die Situation bei ihr liege, und bedankte sich bei uns, dass wir versucht hatten, ihre Bürde zu erleichtern. Sie räumte ein, dass sie zwar in Versuchung käme, musste am Ende aber darauf beharren, dass die Befehlsgewalt nicht teilbar sei. Übersetzung: Das ist nicht eure Entscheidung.
    2. Sie erinnerte uns an die Notlage, in der sie sich angesichts der derzeitigen Situation ebenso befand wie wir. Sie rief uns die schreckliche Tatsache in Erinnerung, dass die Weltbevölkerung auf einen Bruchteil der vorherigen Zahlen geschrumpft sei. Das Vertrauen der Restbevölkerung – und unserer Liebsten, die jedoch weit entfernt waren – ruhte auf unseren Schultern. Übersetzung: Niemand hat das Recht, vor dem zurückzuschrecken, was getan werden muss.
    3. Sie wies sehr sanft darauf hin, dass die Dorfbewohner keine Menschen waren. Nach deren eigener Erklärung waren sie Neue. Als Folgeerscheinung der Großen Löschung besaßen sie seltsame Kräfte und Gelüste, die nicht zu bestimmen waren und vor denen man sich auch nicht schützen konnte. Sie stellten eine Gefahr dar. Falls sie uns infiltrieren sollten, bestand die Möglichkeit, dass sie das Überleben der menschlichen Rasse gefährdeten. Konnten sie mit Menschen Nachkommen zeugen? Würden sie es versuchen? Jedenfalls war das Risiko sehr hoch, und die denkbaren Folgen schienen entsetzlich. Hier musste das Prinzip der Vorsicht gelten. Wir stehen an der Türschwelle der Menschheit und müssen die Tür verschließen. Übersetzung: Diese Leute sind keine Leute. Sie sind Nicht-Menschen. Noch schlimmer, sie tun nur so, als wären sie Menschen. Sie werden uns erwischen, wenn wir ihnen vertrauen, und uns dann vernichten.
    4. Sie legte den Kopf schief und räumte ein, dass ihr dies ganz persönlich sehr zu schaffen mache. Sie hatte einen Doktor in Soziologie und war sich der gefährlichen Vorläufer solcher Äußerungen genau bewusst. Dennoch musste sie nun vor uns stehen und die schwierige Situation nehmen, wie sie war. Sie glaubte, die Mehrheit der Menschen – der wahren Menschen – würde ebenso empfinden wie sie. Natürlich konnte man es nicht dulden. Eine furchtbare Panik würde ausbrechen, wenn man eine Kolonie irrealer Menschen bestehen ließe. Dies musste also vorerst ein Geheimnis bleiben. Übersetzung: Wenn sie wüssten, was wir tun, dann würden sie uns danken. Wir verheimlichen es ihnen aber, damit sie ruhig schlafen können. Wir genießen die Unterstützung der Menschen, selbst wenn sie es nicht wissen.
    5. Sie hoffte, dies werde als notwendiges Opfer zum Wohle der Gemeinschaft bewertet werden, falls später Diskussionen darüber geführt würden, und lud uns ein, dies jetzt schon so zu sehen. Wir kämpften, um zu überleben. Die da draußen waren – so freundlich sie auch erscheinen mochten – der Feind. Übersetzung: Wenn das, was wir heute zu tun beabsichtigten, wider Erwarten falsch sein sollte, dann wird die Geschichte es dennoch als falsche Entscheidung in einer extremen

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