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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Er hielt sie dicht vor der Brust, als sei sie zerbrechlich. Mit dem Overheadprojektor zeigte er uns eine Landkarte mit Höhenlinien und den klaren, scharfen Begrenzungen einiger Gebäude.
    »Dies ist der Ort. Wir nennen ihn Station 9«, erklärte Pistill. »Dort lagert unser größter Bestand an FOX, und es gibt eine kleine Einheit zur Erzeugung von FOX. Das hier ist das Feuer.« Er zog eine zweite Schicht Plastik über die erste, bis ein großer, unregelmäßiger roter Fleck das Gebäude bedeckte. Über einigen Lagerschuppen war er orangefarben, im Zentrum aber beinahe gelb. »Das hier ist das Unwetter, das in etwa zwanzig Stunden dort ankommen wird.« Er legte noch eine weitere Folie mit Druckangaben und Windmessungen darüber. Der Wind würde die Flammen anfachen, und alles, was dort entwich, würde geradewegs zur Grenze und weiter geweht werden.
    »Meine Damen und Herren, bitte!« Als wir ihn ansahen, wiederholte er es. »Bitte … fahren Sie dahin, und löschen Sie den verdammten Brand.« Humbert Pistill besaß Lebenserfahrung. Er wusste, wie man so fluchte, dass die Zuhörer es sich merkten. Nacheinander sahen wir ihn an und nickten. Jim Hepsobah wandte sich an Sally, und auch sie nickte. Ja, Sir.
    Jim Hepsobah trat vor und erklärte uns etwas über Angriffswinkel. Annie der Ochse unterstützte ihn wie eine jungfräuliche Tante, die bei Tee und Kuchen plaudert. Doch sie redete über Explosionswirkungen, die notwendige Überlagerung der Detonationen und das erforderliche Vakuum. Gewöhnlicher Sprengstoff konnte bei brennendem FOX nichts ausrichten, daher die zehn beängstigenden Objekte auf unseren Trucks. Wir sollten sie an den richtigen Stellen absetzen und in der richtigen Reihenfolge zünden. Die Explosion würde dem Feuer den Sauerstoff rauben und den konventionellen Teil löschen. Die plötzliche Kombination von FOX und Zeug sollte das Gleiche mit dem nichtkonventionellen Teil tun. Also mussten wir nur mutig, schnell und perfekt sein.
    Alles klar.
    Es gab zwei brauchbare Straßen, hier und hier, und wir konnten eine der beiden oder beide für uns haben. Jedenfalls hatten wir keine Zeit mehr, überhaupt keine Zeit. Auch ohne den aufziehenden Sturm war der Druck im Rohr bereits so niedrig, dass es in einem großen Bogen von Sallera bis Brindleby im Grunde schon nicht mehr funktionierte. Angeblich sollte es auch Verluste geben. Das Gerücht blieb zwar unbestätigt, aber nicht von der Hand zu weisen. Ein kleiner Ort namens Templeton mit etwa dreihundert Einwohnern sei verschwunden. So etwas ist grundsätzlich schlimm, aber jetzt war es noch schlimmer, weil zwischen den Ereignissen möglicherweise ein Zusammenhang bestand.
    Ich war schon zweimal in Templeton gewesen – einmal wegen eines Auftrags und einmal mit Leah zum Einkaufen, weil Templeton einer der wenigen Orte war, der mit den Leuten von der Grenze Handel trieb. Er lag in einer Ausbuchtung der Lebenszone, in einem Tal, das vom Rohr abzweigte, am geschwungenen Ufer eines Sees. Die Bewohner des Grenzlandes kamen in ihren wendigen Fahrzeugen und schweren Geländewagen und handelten mit ausgefallenen Dingen wie Stoffen und frischen Gewürzen. Es war gefährlich, ständig dem Zeug auszuweichen und sich nicht zu verändern. Und noch gefährlicher war es, sich einer Stadt zu nähern. Wenn die Einwohner auf die Idee kamen, man sei ein Neuer, dann konnte alles Mögliche geschehen. Aber jetzt war Templeton verschwunden, und man musste sich fragen, ob sie sich dort vielleicht zu sehr mit dem Grenzland eingelassen hatten und eingesackt worden waren. Ich hielt den Mund und unterdrückte die Übelkeit, die in mir aufstieg, als ich mir vorstellte, wie Templeton aus seiner Schale gerissen und verschlungen wurde – so wie Drowned Cross. Pistill schnitt eine Grimasse. Einen Augenblick lang war wieder der alte, kalte Schweinehund zu erkennen. Wenn Templeton wirklich verschwunden war, dann würde es dieses Mal eine Abrechnung geben. Er würde es sich nicht gefallen lassen, dass irgendjemand in seinen Teil der Welt kam, um unter seinen Augen zu plündern, zu rauben und seine Leute zu stehlen. Er beugte sich wieder vor und stemmte beide Fäuste auf den Tisch (die plumpe, nackte Faust gab etwas nach, bis die Knöchel den Tisch berührten, während unter seiner Jacke die Muskeln spielten; die Prothese aber gab überhaupt nicht nach). Er wollte wissen, ob es noch Fragen gäbe, was aber nicht der Fall war. Damit war die Besprechung beendet. Schließlich sah er sich um, nickte

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