Die gelöschte Welt
aufzusagen.
Also: Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Translation, sofern er nicht durch einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird. Ich befinde mich nun in einem fortgesetzten Zustand der Ruhe. Es ist das Gesetz der Trägheit, und davon besitze ich im Augenblick eine ganze Menge. Andererseits könnte ich mich auch, Albert Einstein möge mir verzeihen, in Bewegung befinden. Das Ruckeln der Räder und das Zischen der Luft vor dem Bus lassen dies jedenfalls vermuten.
Das Nächste ist schwieriger. Schlüpfrig wie ein Fisch, entzieht es sich dem Verstehen, sobald man danach greifen will: Die Änderung der Bewegung einer Masse ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt. Das klingt so komisch, weil es auf verständliche Weise weder in lateinischer noch in einer anderen Sprache wirklich ausgedrückt werden kann, sondern auf die unverständlichen Gesänge der Mathematik, die man Algebra nennt, angewiesen ist. Für den nicht Eingeweihten ist dieses Gesetz nicht mehr als der Lärm, den der um den Bus pfeifende Wind macht. Ich bin ein Meister der Freimaurerei in beiden Tempeln und spreche nicht nur Algebra, sondern auch die Sprache der vielrädrigen schweren Transportmittel. Dem Geräusch der Reifen kann ich entnehmen, dass wir auf einer wichtigen, recht gut unterhaltenen Straße fahren, aber sicher nicht in der Nähe einer Siedlung, denn ich kann den Staub und ab und zu auch einen Kieselstein der Wüste hören. Zudem weiß ich, dass der Bus eine Wartung braucht und dass wir mit etwa sechzig Meilen pro Stunde fahren. Rechts neben uns bewegt sich mindestens noch ein weiteres ähnliches Fahrzeug. Auch ist mir klar, dass der rechte Vorderreifen etwas abgefahren ist und der linke Luft braucht.
Das alles erkenne ich, weil ich vor den Füßen von Mechaniker-Magiern kniete und ihre geheimen Texte lesen durfte. Dank meiner zweiten Einweihung, der beiläufig verkündeten Bildungsmagie der Evangelistin, weiß ich, dass Newtons zweites Gesetz auch als F = ma aufgezeichnet wird: Kraft gleich Masse mal Beschleunigung. Die Kraft wird sogar in Newton gemessen, und wie alltäglich die Anwendung des Gesetzes ist, lässt sich daran ermessen, dass kaum jemand davon weiß. Andererseits würde fast nichts, was über Zahnräder oder einen Motor verfügt, ohne dieses Gesetz funktionieren.
Jetzt mache ich mir vor allem Gedanken über Newtons drittes Gesetz, das Assumption Soames nutzte, um die Welt zu manipulieren: Kräfte treten immer paarweise auf. Übt ein Körper A auf einen anderen Körper B eine Kraft aus, so wirkt eine gleich große, aber entgegengerichtete Kraft von Körper B auf Körper A. Versetzen Sie einem Objekt einen Stoß, und Sie weichen selbst zurück, falls Sie sich nicht abstützen, um die Reaktion abzufangen. Keine Kraft wirkt in nur einer Richtung. Ein normaler Mensch, der von Kathetern befreit und eingehüllt in den Rauch verbrannter und karzinogener Biomasse in einem fremden Bett erwacht, würde natürlich verschiedene Dinge wissen wollen: »Wo bin ich?« oder »Wie lange war ich weggetreten?« Oder sogar noch persönlichere und damit erheblich gefährlichere Fragen stellen. Ich war jedoch schon einmal in einer solchen Situation, und das Gongfu des Erwachens nach einer schweren Verletzung ist mir bekannt. Fragen wie diese führen in eine bestimmte Richtung, oder vielmehr in zwei Richtungen. Sie führen vom Krankenzimmer auf den Flur und dann in die reale Welt dahinter, mit all ihren Forderungen, Berechnungen und Steuererklärungen und moralischen Verpflichtungen; zu Eheschließungen und Frauen, die man ebenso liebt wie die zugehörigen Katastrophen; sie führen in der Zeit zurück bis zu dem Augenblick der Verletzung und allem anderen, was damit zu tun hat – etwa, dass man in die Luft gejagt wurde oder einer schrecklichen Verschwörung auf die Schliche kam. Newtons drittes Gesetz muss man mit Vorsicht anwenden.
Newtons Arbeit über die Schwerkraft führte zur Entdeckung des Lagrange-Punktes, an dem sich gegensätzliche Kräfte gegenseitig aufheben. Dort kann ein Körper relative Ruhe finden, und diesen Punkt steuere ich jetzt an. Die Kräfte in meinem Leben bekämpfen sich gegenseitig. Im Augenblick ist es besser, einfach hier im Jetzt zu sein, ohne Geschichte oder Zukunft. Ein Mann, der ein Frühstück braucht. Das bin ich nun also. Ich akzeptiere alles, was sie sagen, und
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