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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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reichen, und nirgendwo gebe es eine andere, die jemals so feminin sein könne, was sie mit einem wehmütigen Blick in Lisas kolossalen Ausschnitt unterstreicht. Diese kriecherische Selbsteinstufung als Beta-Weibchen führt dazu, dass K sogleich als vorübergehender Schützling des Zirkels adoptiert wird. Als sie dann endlich in ihren Airstream zurückkehrt, riecht sie nach drei verschiedenen Parfüms und hat einen Haarschnitt, der verwegen und nach einer kämpferischen Frau an der Grenze aussieht. Unterwegs hat sie allen Matronen, Mädchen und Vetteln das Versprechen abgenommen, die Zirkusvorstellung zu besuchen und so viele männliche Verwandte mitzubringen, wie sie nur dienstverpflichten können. Unter den jüngeren Mädchen ist sogar schon ein Wettstreit ausgebrochen, wer mehr junge Männer abschleppen kann, um die wilde, romantische, respektable und glücklicherweise flachbrüstige und monogame Zigeunerin gebührend zu beeindrucken. Die Folge dieser absolut weiblichen Begeisterung und die Aussicht auf eine Gelegenheit, bei einer Veranstaltung lüsterne Jungen und Mädchen aus Rheingold in unverfänglicher Umgebung zusammenzubringen, erledigt jede Debatte und sämtliche Fragen nach Genehmigungen im Stadtrat auf der Stelle. Also kommt der Zirkus in die Stadt.
    Wir haben unsere Wagen im Kreis aufgestellt und in bequemer, aber unaufdringlicher Entfernung zu Rheingold unser Lager aufgeschlagen. Es ist der Morgen nach unserer Ankunft. Aus dem stumpfen Purpur in einer Ecke des Himmels kommt ein einsamer Bus, alt, Diesel spuckend und mit abgeblätterter Farbe, unter der das nackte Metall durchscheint. Es ist ein Bus mit etwa sechsundzwanzig Sitzplätzen und ungefähr so weit von den weichen Konturen von Ks Airstream entfernt, wie man auf Rädern nur kommen kann. Die luftarmen Reifen schlittern und quietschen auf der Straße und wölben sich gefährlich nach außen, weil kaum noch genug Druck in ihnen ist, um die Felgen über dem Asphalt zu halten. Der Motor knallt und knattert und stößt kleine, noch brennende Wölkchen aus dem Auspuffrohr heraus, das – offenbar an Gummibändern – traurig zwischen den Hinterrädern hängt. Dieses fahrende Wrack hält bei uns, worauf fast alle erschrocken zurückweichen. Der Bus ist in einem fleckigen Blau lackiert, ringsherum verrostet und verbeult und verschandelt. Eigentlich ist es eher ein sterbender Krieger als ein Bus. In jedem mit Sternen geschmückten staubigen Fenster taucht ein eigenartig bleiches Gesicht auf. Die Haut ist weiß, die Augen sind schwarz, die Gesichter zu einem gespenstischen Lächeln, einem wilden Grinsen oder einem schaurigen Heulen verzerrt – eine vielfältige Wiederholung von Munchs Gemälde.
    Die Tür öffnet sich, der Fahrer springt von seinem Sitz herunter, winkt und grinst.
    »Hi«, sagt Ike Thermite. »Ich bin Ike Thermite.« Dies nur für den Fall, dass jemand es vergessen hat. »Wir sind das Matahuxee Mime Combine!« Er landet federnd auf dem Boden, und hinter ihm kommen nach der Reise die Schauspieler mit knackenden Gelenken und verdrehten Knochen zum Vorschein. Gleich darauf schleppen ihn K und K schon ab und tragen ihn schulterhoch zwischen den Bussen umher. Ich bleibe mit den Pantomimen allein zurück.
    Wir betrachten uns gegenseitig, niemand sagt etwas. Es ist, als führen wir zusammen zu einer Beerdigung. Nach einer Weile winke ich ihnen etwas zögernd zu. Einer nach dem anderen wiederholt die Bewegung, es ist eine perfekte Imitation. Die Bewegung beginnt unmittelbar vor mir, dann greift sie der Nächste auf, ehe sie ganz vorbei ist, und so läuft die Welle weiter bis ganz nach hinten.
    Dann jedoch, als sie gerade den Rückweg antreten will, entsteht eine eigenartige kleine Unruhe. Der Mime am unteren Ende bemerkt etwas am Horizont, schaudert und versteckt sich hinter seinem Nachbarn. Derjenige, der so als Deckung herhalten muss, sieht sich abrupt in beide Richtungen um und rennt zu Ks Bus. Der wieder ungeschützte Mime eilt hinter den folgenden, der ebenfalls auf die Ehre verzichtet und sich eilig entfernt. So bleibt der kleine Mann gebückt und mit krummen Beinen stehen und späht um ein Hindernis herum, das schon nicht mehr da ist. Schließlich dreht er sich um und stürzt hinter den vierten Pantomimen, der seinerseits entsetzt den Dunst in der Ferne anstarrt und sich auf einmal erinnert, dass er anderswo etwas Dringendes zu erledigen hat. So geht es auch mit dem Nächsten und dem Übernächsten weiter. Nach einigen Sekunden sind wir die

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