Die gelöschte Welt
Einzigen, die noch da sind, und der verschreckte Mime starrt mich an. Langsam streckt er einen zitternden Finger und dann einen ganzen Arm aus und deutet auf die Straße. Seine Augen sind riesengroß und so rund wie bei einem bettelnden kleinen Hund.
Na gut. Dann versteck dich eben hinter mir.
Unterdessen blicke ich in die Richtung, in die der Finger zeigte. Dort ist eine kleine Staubwolke entstanden, offenbar weil sich ein Fahrzeug nähert. Ein ausgemusterter Armeelastwagen, der schon bessere Tage gesehen hat. An der Seite prangen ein paar Einschusslöcher und eigenartige Kratzer, überall sonst ist er vor allem dreckig. Die Planen wurden durch Bretter ersetzt, die vermutlich aus einem altmodischen Restaurant oder einem großen Wohnhaus stammen. So ist eine Art Wohnwagen entstanden. In riesigen Buchstaben steht »Andromas der Magier« auf der Seitenfläche. Der Maler verstand aber offenbar mehr von Tischlerei als von Farben, denn die Buchstaben sind verlaufen, und die ganze Chose wirkt nicht so sehr wie ein Zigeunerwagen, sondern eher wie eine schmelzende Wachsfigur. Ich drehe mich zu dem hinter mir versteckten Mimen um, der jedoch längst verschwunden ist. Andromas der Magier hält direkt neben Ks Airstream an. Die Fahrertür öffnet sich, und grauer Staub – wie von einem Friedhof – rieselt heraus. Dann berührt ein abgestoßener Lacklederschuh lautlos den Boden.
Dr. Andromas steigt aus. Er trägt einen Zylinder, von dem ein Stück Gaze oder ein Moskitonetz wie ein Schleier bis auf die Schultern herabhängt. Das Gesicht dahinter ist weiß, er hat einen Schurkenschnurrbart und trägt eine Fliegerbrille. Seine Kleidung ist schwarz, was ihm das Aussehen einer Mumie oder einer kranken Riesenfledermaus verleiht. Alles in allem ist er nicht einmal so groß wie ich. Es kommt mir komisch und sogar irgendwie gefährlich vor, auf ihn herabzuschauen.
»Dr. Andromas?«
Der Doktor sieht mich einen langen Augenblick an, dann zuckt er mit den Achseln und geht vorbei, um sich seinen Geschäften zu widmen.
Über jemanden, den sogar Pantomimen unheimlich finden, muss man sich schon Sorgen machen.
Es ist Mittagszeit, aber die Schauspieler essen nichts. Sie stehen völlig reglos in einer langen, genau ausgerichteten Reihe herum. Dabei sind sie gar nicht stocksteif, sondern vielmehr entspannt und aufmerksam, aber sie rühren sich nicht. Still wie Leichen und mit aufgemalten Gesichtsausdrücken nehmen sie Ike Thermites Befehle entgegen. Ike geht an der Reihe entlang, zum ersten Mal in unserer kurzen Bekanntschaft wirkt er völlig ernst. Dann kehrt er ihnen den Rücken und breitet die Arme aus wie ein Vogel die Schwingen. Das Matahuxee Mime Combine folgt langsam seinem Beispiel. Anschließend dreht er einen Arm herum, öffnet eine eingebildete Tür und schreitet in eine eingebildete Welt hinüber. Er schiebt einen eingebildeten Stuhl unter einen Tisch und fordert sie auf, ihm zu folgen.
Nacheinander treten die Pantomimen über die Schwelle. Kein Einziger berührt den Türrahmen oder steckt eine Hand durch die Wand. Es sind zu viele, sie passen nicht in den ersten Raum, und so bleiben sie hängen und drängen sich vor dem Eingang. Ike öffnet eine weitere Tür und dringt tiefer in das eingebildete Gebäude ein. Die vordere Hälfte des Matahuxee Mime Combine folgt ihm. Die anderen verteilen sich im ersten Raum, bei dem es sich offenbar um eine Küche handelt. Sie übernehmen die Küchenarbeiten, waschen ab und putzen. Dabei weichen sie einander aus und springen über nicht existierende Möbelstücke. Sie kochen. Im nächsten Raum sind unterdessen Heimwerkerarbeiten im Gange. Die Mimen sägen und hacken Bretter zurecht, schrubben den Boden und putzen die Fenster. Sie weichen rudernden Armen aus, halten in je einer Hand eine Suppenschüssel, trippeln vor Sofakanten entlang, zanken sich, streiten sich, ducken sich und weichen aus. Mit geradem Rücken und fließenden Bewegungen tun sie all dies in äußerster Stille, abgesehen von einem gelegentlichen gemeinsamen Seufzen. Ike beobachtet sie. Dies ist die Kata des größten Pantomimen der Welt.
Ich bin wie hypnotisiert, traurig, verzückt und habe plötzlich schreckliches Heimweh. Ich bin doch hergekommen, um mit Ike Thermite zu reden, Hallo zu sagen und über die alten Zeiten zu plaudern. Aber auf einmal bin ich nicht mehr sicher, was ich überhaupt tun will. So bin ich froh, dass K schließlich zu mir kommt und mir eine Aufgabe zuteilt. Als ich aufbreche, beginnen die Mimen
Weitere Kostenlose Bücher