Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
Vom Netzwerk:
ich auch Seekrankheit, kurzfristige Absagen und Katalepsie berücksichtigen musste. Aber sie hatten dafür eine Formel, und wir bekamen es hin). Der Mangel an Nebel ist wirklich enttäuschend, und leider heult auch niemand. Nur auf einer Farm jenseits der Flussmündung bellt hin und wieder ein Hund, als würde er gleich platzen. Gonzo hat die Fenster heruntergelassen, damit die kühle Luft bis nach hinten weht und die Damen veranlasst, engen Kontakt mit den männlichen Heizkörpern auf den Vordersitzen zu suchen. Sie lassen sich nicht lumpen.
    Theresas Fingernägel sind gerade unter den Kragen meines T-Shirts gefahren, als wir um die Ecke biegen. Dort steht tatsächlich ein Gasthof, niedergebrannt, eingestürzt und von Ranken überwuchert. Er ist auf der Karte nicht eingezeichnet, und hier gibt es auch kein Hinweisschild. Würden wir nicht genau hinschauen, dann würden wir nur Bäume und ein paar Bretter sehen. Aber da wir genau hinschauen, erfasst meine Taschenlampe eine noch stehende Tür und zwei oder drei Stufen dahinter. Belinda Appleby, sie soll in tausend Höllen schmoren, murmelt: »Da sollten wir aber nicht reingehen.« Theresas Finger halten auf meiner Haut inne, sie hält den Atem an. Jeder weiß, dass es darauf nur eine Antwort geben kann.
    »Aber klar gehen wir da rein«, sage ich, weil Gonzo bereits abbremst. Theresa atmet leise aus, ob bewundernd oder erschrocken, kann ich nicht sagen.
    Stille sollte einem keine Angst machen. Wenn es still ist, hört man auch das leiseste Geräusch. Der eigene Herzschlag und der eigene Atem werden hörbar, weil man sich anstrengt, um etwas zu erfassen, das nicht da ist. Als Gonzo den Truck anhält, liegt keineswegs ein Schweigen über der Kreuzung, sondern eine Art Summen. Ringsherum gehen Hunderte von Wesen ihren nächtlichen Geschäften nach: winzige Nagetiere, das Flattern der nächtlichen Raubvögel, die sie jagen, das Wispern und Rascheln des Windes in den Büschen. Wildschweine wetzen die Hauer an den Bäumen und schütteln die Früchte herunter, die so dumpf wie verstohlene Schritte auf den Boden prallen. Irgendwo hat gerade ein größeres Tier ein kleines Säugetier besiegt und gefressen. Auf der anderen Seite des Deltas bellt immer noch der Hund, und das Lärmen der gemeinsam ausflippenden Rentner weht über den Sand und durch den Wald herüber und wird so zurückgeworfen, dass wir überall leise Stimmen hören, die man aber gerade jetzt nicht verstehen kann. Im Dunkeln macht es ständig krks und tscht. Theresas hohe Absätze sinken im Gras ein. Belinda stützt sich auf Gonzo. Ich lasse den Strahl der Taschenlampe in einem weiten Halbkreis herumwandern und forsche in allen Winkeln der Dunkelheit nach lauernden Augen und gierigem Lächeln. Hier kann es doch keine Kannibalen geben. Hier hat es nie welche gegeben, und selbst wenn, dann sind sie ausgestorben. Sogar ihre Haustiere sind tot. Daran habe ich überhaupt keinen Zweifel. Nicht den geringsten Zweifel. Keinesfalls.
    Gonzo führt uns hinein.
    Staub und Dreck, geborstene Spiegel, zerbrochene und mit halb durchsichtigem Schnaps gefüllte Flaschen. Ein kleines Lokal, vielleicht eine Kneipe oder ein Saloon, die kahlen Wände haben Risse und verlieren sich im Schatten. Dazu ein satter, moschusartiger Tiergeruch. Irgendjemand hat mitten im Raum ein Feuer gemacht, geraucht und getrunken, aber nicht aus den Flaschen, die noch auf der Theke stehen. Diese Gäste haben ihre Getränke selbst mitgebracht. Eine frühere Expedition, die kam und ging. Vielleicht war Marcus hier, bevor er in den Krieg zog.
    Wir sehen uns um. Holz. Linoleum. Billige Stühle. Gonzo schreibt seine Initialen in den Staub auf der Theke, grinst, als wollte er sagen: »Veni vidi vici.« Dann wendet er sich zum Gehen – bleibt aber wie angewurzelt stehen, als ein tiefes Knurren ertönt. Es ist keine menschliche Stimme. Sie gehört einem Raubtier von ganz anderer Art. Wild, drohend und unmissverständlich. Der Laut fährt direkt in den Hirnstamm und sagt: Hau ab oder kämpfe. Wir starren das Biest an.
    In der Tür steht ein Ungeheuer: ein großer, dicker, hässlicher Hund mit einem Kopf wie ein Basketball und zu vielen Zähnen. Es ist lächerlich zu denken, dies sei ein echter Kannibalenhund. Oder auch nur ein Nachkomme von Kannibalenhunden. Offensichtlich ist es ein Kampfhund oder ein Hund von Bärenjägern oder die Sorte von Hund, die ein Idiot für toll hält, der ihm dann aber die Hand abkaut und wegläuft, um im Wald zu leben und im Moor

Weitere Kostenlose Bücher