Die gelöschte Welt
verraten, er würde sich nicht an Zeit und Ort erinnern und sie nicht im Gegenzug beschuldigen. Gonzo würde nicht einknicken, sondern einen Anwalt verlangen und auf seinen Rechten bestehen, und er würde George Copsen seine Verachtung entgegenschleudern. Ich bemühe mich nach Kräften, was mir aber nicht sehr gut gelingt, und erwidere, ich wüsste überhaupt nicht, wie die anderen auf so etwas gekommen sind, obwohl mir das Herz blutet und ich mich beherrschen muss, um nicht zu weinen.
Jetzt wird die Miene des Generals etwas ernster. Er schlägt mir vor, meine Lage zu überdenken. So erzähle ich ihm von Anfang bis Ende die ganze Geschichte. Er hört aufmerksam zu und erklärt danach, dass er dies nicht im übertragenen Sinne gemeint habe. Ich sollte seine Empfehlung lieber ganz wörtlich nehmen. Dann zieht er aus seiner ausgesprochen männlichen Uniformtasche ein Schminkdöschen und klappt den Spiegel auf, um mir zwischen den Näpfchen mit teuren Kosmetika das volle Ausmaß der Bredouille zu zeigen, in die ich mich selbst gebracht habe.
Der Geruch weckt starke Erinnerungen. Alte Männer, blind und senil in Liegestühlen auf der Wiese von Happy Acres, erinnern sich lebhaft an die Dinge, die sie in ihrer Jugend in Heu und Blumenbeeten getrieben haben. Dieser Augenblick löst bei mir den umgekehrten Prozess aus: Von dem Augenblick der Offenbarung in diesem kleinen Raum in Jarndice bis zum heutigen Tag werde ich diesen Puder nicht mehr riechen können, ohne vor Angst zu würgen. Auch Matronen mit steifen Manieren und mächtigen Persönlichkeiten benutzen das Zeug, aber das hilft mir nicht, denn keine davon sitzt vor mir. Vielmehr erinnere ich mich, wie ich aus dem zehn Zentimeter großen Spiegel in Copsens Hand langsam ein Bild zusammensetze. George Copsens Hand zittert kaum, aber er ist auch keine Statue, und deshalb wackelt der Spiegel ein wenig. Eigentlich ist das kein Problem, denn der Spiegel ist zu klein, um mir rasch einen Überblick über den Raum zu verschaffen. Mein aufkeimendes Entsetzen beruht auf dem Phänomen, das man »Nachbilder« nennt. Es bildet auch die Grundlage dafür, dass Kinofilme überhaupt funktionieren: das menschliche Auge hält die Szenen noch einen Moment lang fest, nachdem sie schon verschwunden sind. Aus einzelnen Elementen kann man so ein Gesamtbild zusammensetzen. Eine Folge von vierundzwanzig leicht unterschiedlichen Einzelbildern lässt ein bewegtes Bild entstehen. So konstruiere ich mir aus einer Reihe runder Spiegelbilder einen Gesamteindruck von meiner misslichen Lage. Aber dabei muss ich mich sehr konzentrieren. Vielleicht weiß George Copsen dies und nutzt es sogar, um meine Aufmerksamkeit zu schärfen.
Der Grund dafür, dass der Raum nach Bleichmittel riecht; der Grund dafür, dass der Sitz feucht und etwas rutschig ist; der Grund dafür, dass mein Kopf fixiert ist und ich die Hände nicht bewegen kann – der Grund für all dies ist die Tatsache, dass ich in einer Hinrichtungskammer auf einem elektrischen Stuhl sitze. Von der Wand läuft ein dickes Kabel herüber, das wie ein Rattenschwanz aussieht, und mündet in der Nähe meiner Füße in den Sockel. Wenn nötig, kann dieser Apparat genügend Strom übertragen, um mir das Gehirn zu verbrennen.
Lydias Vater denkt darüber nach, ob er mich auf der Stelle hinrichten soll. Sein Daumen liegt auf dem Knopf, und vielleicht drückt er ihn aus Versehen, wenn ich ihm einen Anlass gebe, die Hände zu Fäusten zu ballen, oder vielleicht geschieht es auch schon, wenn er nur niest. Das ist äußerst illegal, und wenn irgendjemand es herausfindet, wird der General zweifellos großen Ärger bekommen, aber das wird (offensichtlich kann George Copsen genau verfolgen, wie sich Argument und Gegenargument in meinem Kopf die Türklinke in die Hand geben) den rauchenden, wie ein Schwein gegrillten Überresten eines fälschlich beschuldigten Studenten nicht mehr helfen, der eben nur nicht klug genug war zu erkennen, wie tief er in der Patsche saß, und der so dumm war, auf verfassungsmäßigen Rechten zu bestehen.
Gonzo würde es einen Bluff nennen. Gonzo würde sicher sein, dass es ein Bluff war. Mein Instinkt sagt mir, ich solle die Frage des Mr A in den Begriffen erklären, die ich kürzlich gelernt habe. Das würde bedeuten, General Copsen etwas über Freges Überlegungen zu Sinn und Bezug zu erzählen, die im Grunde darauf hinauslaufen, dass Sprache und Realität nicht immer deckungsgleich sind und dass es möglich ist, Worte zu benutzen
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