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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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mit seinen unbestreitbaren Missetaten konfrontiert wird, ist auch nicht schlecht. Aber das sind nur Kasper, und ich suche einen echten Sündenbock. Ich werde nicht das Spiel »Zerschmettert die Unwürdigen« in der Kindergruppe der Evangelistin spielen. Deshalb verleumde ich Sebastian und gehe makellos und gründlich vor, während ich sein Leben mit meinen Lügen vermische, wie er es mit mir getan hat.
    Diese Täuschung bezieht ihre Kraft aus ihrer Größe. Ich stelle Sebastian sorgfältig als Extremisten dar, als teuflische verborgene Spinne im Zentrum eines fein konstruierten Netzes aus politischen Ränken. Ich deute an, er sei ein Mann der Tat, ohne es wirklich zu sagen. Ich zitiere selektiv, um anzudeuten, dass er um jeden Preis eine Veränderung herbeiführen will, eine Revolution um ihrer selbst willen, und nicht etwa die gemäßigte, humanitäre Variante, die er bei Wodka Tonic zu predigen scheint, sondern die andere Sorte, die aufrührerische, gewalttätige Sorte, bei der Menschen getötet werden. Ich erkläre, dass er wohl dazu neigen könnte, die ganze Welt mit sich in den Untergang zu reißen, um die Erde mit seinem eigenen und dem Blut der anderen zu düngen und eine neue Weltordnung zu erschaffen. Ich mache nicht den Versuch, seine Ideologie zu definieren, sondern sage nur, er habe sich ihr in einem Maße verschrieben, das über sein Interesse am Staat, am menschlichen Leben und an seinem eigenen Überleben hinausgeht. Ich überlasse es dem Leser, die Lücken aus öffentlich zugänglichen Informationen zu füllen. Es ist ein schrecklicher Rufmord. Eine wilde Fehlinterpretation. Sebastians Credo – das ihm tatsächlich wichtiger ist als alles andere – besagt, dass keine Idee, kein fortschrittlicher Gedanke und keine Theorie jemals auf Kosten auch nur eines einzigen Menschenlebens in der Welt einen Fortschritt erzielen dürfe. Sebastian verachtet die Statistiken, mit denen er sich so gut auskennt. Er interessiert sich nur für die Geschichten, denn wo die Zahlen der Toten nur noch Zahlen sind, erinnern die Geschichten über sie an die Tragödien.
    Sebastian meint, Ideen hätten die Welt zerstört. Er hasst Kettenläden und Fast-Food-Restaurants, Massenprodukte und modische Kleidung – oder einfach alles, was unabhängig von lokalen Gegebenheiten auf der ganzen Welt wiederholt wird. Diese Dinge verleugnen die Einzigartigkeit jedes Augenblicks und jedes Menschen und funktionieren, als wären wir alle aus Plastikteilchen vorgestanzt. Sie wollen uns zwingen, auf die gleiche Weise zu funktionieren, und auf diese Weise dringt die Perfektion in unsere schmutzigen, stinkenden und verschwitzten Lebensräume ein.
    Ohne es direkt zu sagen, deute ich an, er würde wohl am liebsten alles in die Luft jagen. Zu meiner Überraschung mache ich das Gleiche mit Aline. Ich sage nicht, sie sei eine Sirene und eine Charybdis. Ich beschreibe sie sogar als unschuldig: ein jungfräuliches, unkompliziertes Wesen, das Sex mag und immer den Eindruck erweckt, als wäre es das erste Mal. Dabei fällt mir ein, dass es vielleicht sogar der Wahrheit entspricht.
    George Copsen liest mein Lügenwerk, und entweder er glaubt es, oder er glaubt einen Teil davon, oder es erfüllt jedenfalls irgendwie seinen Zweck, denn er lässt mich gehen und tötet mich nicht und nimmt mich nicht einmal offiziell in Haft. Ein stämmiger Nicht-Sergeant dräut über mir, als ich das Gefängnis verlasse, und murmelt unwirsch immer wieder etwas über »Esel«.
    Zufällig lässt sich diese Schuld leicht abtragen. Gonzo hat kürzlich Lydia Copsen wiedergesehen, die offenbar zu einer sehr attraktiven, anbetungswürdigen jungen Frau mit einem erfreulichen Ausschnitt und vorzüglichen Rundungen aufgeblüht ist. Die unausweichliche Folge seiner Begegnung mit ihr – bei der er sich entschuldigen will – ist die, dass bei mir der Putz von den Wänden fällt, meine Bilder wackeln und ich Aline mehr denn je vermisse, während Gonzo und Lydia im Nachbarzimmer nach dem Essen noch einen Kaffee trinken. Das ist mit ziemlicher Sicherheit nicht das, was der General im Sinn hatte, aber ich habe, genau wie die offenbar sehr erfreute Lydia, nicht die Absicht, ihn aufzuklären. Gonzo hat eben diese Wirkung auf Frauen. George Lourdes Copsen ist jedenfalls zufriedengestellt (allerdings, wie ich sehr hoffe, nicht auf die gleiche Weise), und ich setze in Jarndice mein Studium fort, nachdem ich etwas über die Natur der Macht gelernt und mir vorgenommen habe, in Zukunft besser

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