Die gelöschte Welt
Stummelflügeln, aber Fortismeers schärferes Auge hat sicher irgendeinen Mangel entdeckt.
»Kartoffeln«, klagt er. »Überall Kartoffeln, bedeckt mit Schlamm. Ich hasse Bratensoße. Sie schmeckt immer nach Pferdefleisch. Haben Sie schon mal Pferd gegessen?«
»Nein.«
»Eigentlich gar nicht schlecht, aber es schmeckt eben nach Pferd. Man nimmt immer den Stallgeruch wahr.«
Dann starrt er das Moorhuhn an und stochert entmutigt mit der Gabel darin herum. Das Tier gibt ein kleines, feuchtes Geräusch von sich, als die knusprige Haut reißt, und wirkt irgendwie ziemlich traurig. Fortismeer ist gerührt und erbarmt sich. Die Unterhaltung schläft eine Weile ein, weil Dr. Fortismeer zwar mit makellosen Tischmanieren begabt ist, aber keineswegs lautlos zu speisen versteht.
»Sie haben da ein Problem«, murmelt Fortismeer schließlich. Offenbar hat er die ganze Zeit darüber nachgedacht, während er das arme Moorhuhn zerlegte. Ich fasse ein wenig Mut.
»Ein dummes Problem«, murmelt Fortismeer. »Ein schreckliches Mädchen, wie war ihr Name noch gleich? Eine verdammte Eva Braun, die auf ihren Adolf wartet. Es ist natürlich nicht fair, wenn ich es so ausdrücke. Sie hat keine Zukunft. Trotzdem, sie hat Sie angeschmiert. Ich konnte sie nie gut leiden, diese Aline. Wo ist sie jetzt? Versetzt, abgehauen? Hat sie sich verabschiedet?«
»Nein«, antworte ich, und erst jetzt wird mir klar, dass sie tatsächlich verschwunden ist. Fortismeer nickt.
»Hat natürlich diesen Idioten von Sebastian Sands mitgenommen. Ein Hauch von Gnade. Ein begabter Student, aber schrecklich ängstlich. Den konnte ich ganz gut leiden. Ich habe mir immer gewünscht, er würde die Universität wechseln. Aber schau mal da … es wird wohl Zeit für einen kleinen Pudding, denke ich.« Er schellt, gleich darauf stolziert Callista mit einer riesigen Schale Rhabarberstücken in Schlagsahne herein. Für mich hat sie einen zweiten, wesentlich kleineren Löffel mitgebracht. Es ist entweder ein verzweifelter Versuch, Fortismeer vor dem Platzen zu bewahren, oder ein hintergründiger Kommentar über meine Beziehung zu ihm. Sie seufzt schwer in seine Richtung, als sie die Schale abstellt, und setzt einen ausgereiften Schmollmund auf. Ich hätte an Fortismeers Stelle Probleme, ruhig sitzen zu bleiben, aber er scheint es nicht zu bemerken. Callista richtet sich abrupt wieder auf und marschiert hinaus.
»Rhabarber ist das einzig Wahre, müssen Sie wissen. Er regt die Durchblutung an und bringt die Säfte in Wallung. Ich weiß gar nicht, warum das nicht mal erforscht wird. Wahrscheinlich kann man Millionen damit verdienen. Ihr Freund lebt vermutlich ausschließlich davon. Wie heißt er noch? Lubitsch. Hat natürlich osteuropäisches Blut in den Adern, geht es an wie ein Wiesel. Lubitsch, nicht Callista. Sie ist nämlich wütend auf ihn, müssen Sie wissen. Er hat sie sitzen lassen, und zur Rache wirft sie sich nun mir an den Hals. Das alberne Ding. Zu dünn, interessiert mich nicht die Bohne. Wahrscheinlich würde ich sie umbringen, wenn wir zur Sache kämen. Sie würde zerbrechen wie ein Zweig. Sie müsste oben sein, aber das hasse ich, dabei fühle ich mich immer wie ein Wal, der ins Meer zurückgeschoben wird. Ich brauche eine Frau, an der was dran ist. Was?«
Fortismeer zeichnet eine Figur in die Luft, die ungefähr einem Kontrabass entspricht. Ich will dieses Thema jedoch nicht weiterverfolgen und schweige aus strategischen Gründen.
»Gehen Sie zu Horton, der kennt sich aus, der unheimliche kleine Dreckskerl. Viel zu gerissen für meinen Geschmack, und ich bin selbst schon so gerissen, dass es wehtut.« In seinem schlaffen Gesicht blitzen die Augen, ein Fuchs im Dickicht. »Was werden Sie ihm erzählen?«
»Die Wahrheit.«
Fortismeer denkt darüber nach. »Ist wahrscheinlich auch am besten so. Ehrlichkeit kann ganz schön verwirrend sein.«
Callista bringt den Käse.
So nähere ich mich also dem Beschaffungsbüro, dem Arbeitsplatz von Mr Crispin Horton. Schon am Telefon habe ich ob dieser unglücklichen Kombination von Namen und Stellung die Nase gerümpft. Allerdings gab mir die derzeitige Empfangsdame in atemloser Vertraulichkeit zu verstehen, dass Mr Horton nicht den geringsten Humor besitzt. Offenbar hat Mr Horton auch nicht viel zu lachen. Das Gebäude, in dem er arbeitet, ist ein grauer Kasten mit abweisenden Fenstern und schlecht ausgewählter biologisch abbaubarer Farbe, die ein ruhiges, entspanntes Arbeitsklima schaffen soll
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