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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Wiedergutmachung trage. Crispin Horton öffnet eine Versandtasche und betrachtet das einzelne Blatt, das darin gesteckt hat. Er braucht nicht sehr lange und liest es ein zweites Mal, um ganz sicher zu sein. Schließlich zuckt er mit den Achseln.
    »Möchten Sie wissen, was hier steht?« Er schiebt die Akte halb über den Tisch zu mir hinüber.
    Ich denke über mehrere Möglichkeiten nach, die eigentlich überhaupt keine sind. Als Erstes verwerfe ich alle jene, die mit Kreischen oder Brüllen verbunden sind oder darauf hinauslaufen, ihn mit der schweren Heftmaschine, die am Fenster steht, zu erschlagen. Außerdem verzichte ich darauf, seine Hände zu küssen und ihm meine erstgeborene Tochter als Magd und meinen Sohn als Fußabtreter anzudienen. Die einzig wichtige Frage ist doch, ob ich den Arm ausstrecke und die Akte an mich nehme, um zu erfahren, warum ich nirgendwo eingestellt werde, oder ob ich aufspringe und fliehe und den Rest meines Lebens damit verbringe, Fenster zu putzen und mir Gedanken zu machen. Sie mögen es nicht glauben, aber so fern liegt mir dieser Gedanke gar nicht. Das weiße Blatt macht mir Angst, ich werfe einen Blick darauf, um den Zauber zu ergründen, und bemerke erst hinterher, dass ich es aufgehoben habe.
    »WEITERLEITEN AN GEORGE LOURDES COPSEN«, steht darauf und darunter in der schrägen Handschrift von Lydias Vater: »Statistischer Blindgänger. Schicken Sie ihn rüber, wenn Ihnen das Vorsegel gefällt.« Dieser Ausdruck aus der Seefahrt bezieht sich auf das Erscheinungsbild eines Schiffes, gewissermaßen auf seinen Charakter, im übertragenen Sinne aber offenbar auch auf die Haltung eines Mannes oder einer Frau und im noch weiter übertragenen Sinn möglicherweise auf die Nase. Andererseits halte ich es kaum für wahrscheinlich, dass sich George Lourdes Copsen über die Form meiner Nase Gedanken macht, da er doch stark ausgeprägte Mongolenfalten besitzt und somit ein Mann ist, der genau weiß, dass die Beschaffenheit der Seele nicht immer vom Gesicht abzulesen ist. Höchstwahrscheinlich will er Crispin Horton nur anhalten, sein Urteilsvermögen zu nutzen und ihm sagen, dass meine Zukunftsaussichten ganz und gar von der Entscheidung eines Mannes abhängen, den ich vergeblich zu übertölpeln versucht habe, der meine erbärmliche Flunkerei durchschaut und keinen Grund hat, mich zu mögen, und den ich insgeheim mit einer geosynchronen Spitzmaus verglichen habe. C. T. Horton sieht mich an und lässt einen Augenblick lang das volle Ausmaß seiner Intelligenz hinter dem freundlichen, hässlichen kleinen Gesicht aufblitzen. Wie Meister Wu findet auch er in mir, was er gesucht hat.
    »Ein statistischer Blindgänger«, sagt er, und es klingt wie die Evangelistin (die echte, gottlose Ausgabe), wenn sie darüber redet, Kreuze zu verbrennen. »Wissen Sie, was das bedeutet?«
    Ich habe keine Ahnung.
    »Kommen Sie mit.« Damit steht Crispin Horton auf und führt mich aus dem Büro hinaus, einen Flur hinunter und einen weiteren hinauf, bis wir ein Büro erreichen, das dem seinen fast aufs Haar gleicht. Hier arbeitet ein Mann namens Pont. Auf dem kleinen Namensschild steht nur PONT in Großbuchstaben, sodass ich mich frage, ob PONT vielleicht auch sein Titel ist. Person Ohne Natürliche Talente. Politischer Organisator für Nebulöse Tarnmanöver. Pinguinoffizier, Nord-Territorium. Letzteres kommt mir unwahrscheinlich vor, aber es würde erklären, warum Ponts Bürowände mit komplizierten Kurven und Tortendiagrammen bedeckt sind. Ich suche noch nach Anzeichen der arktischen Vogelwelt und nach Studien über Walspeck, als Crispin Horton das Wort ergreift.
    »Pont«, sagt Crispin Horton, »ich möchte einen sokratischen Dialog anregen, der in einem kurzen Exkurs seinen Höhepunkt finden könnte.«
    »Oh, alles klar«, sagt Pont bereitwillig. Er legt das Datenblatt weg, das er gerade zu seinem persönlichen Vergnügen gelesen hat, und spitzt die Ohren. Wie mein neuer Freund Crispin Horton erinnert auch Pont eindeutig an einen Kleinsäuger. Im Gegensatz zu Crispin Horton scheint er aber kein nachtaktives Tier zu sein. Er blinzelt, reibt sich mit gewölbter Hand die Nase und zeigt, dass es seinetwegen losgehen kann. Crispin Horton lehnt sich neben der Tür an die Wand und beginnt.
    »Hobbes (der politische Denker, nicht der niedliche Cartoontiger) vertrat die Ansicht, der Krieg sei der natürliche Zustand der Menschheit. Was sagen Sie dazu?«
    »Ich sage, er war ein pessimistischer alter Arsch, der einen

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