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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Wirkung er möglicherweise auf Spitzmäuse und verwandte Tierarten ausübt, abgesehen davon, dass sie vermutlich im weichen, beruhigenden Licht ganz friedlich herumsitzen und vor Staunen die Augen aufreißen würden. Hier gibt es keine rechten Winkel, und an den seltsamsten Stellen ragen unregelmäßige Spitzen aus Schaumstoff hervor, die jedes Geräusch dampfen und verhindern, dass der Bau mit Spionagemethoden abgehört wird, für deren theoretische Grundlage ich keine Freigabe habe, die aber jedenfalls auf Symmetrie und Festigkeit beruhen. Ich verzichte auf weitere Überlegungen dieser Art, damit ich nicht noch versehentlich auf etwas stoße, das ich nicht wissen darf, und getötet werden muss.
    Endlich biegen wir um eine Ecke, aber statt einer weiteren asymmetrischen Tür oder eines wirren Treppenhauses betreten wir einen eigenwillig zugeschnittenen Raum, in dem Männer und Frauen etwas tun, das sie ernste Mienen ziehen und nachdenklich an den Unterlippen nagen lässt. Gegen die bekannte Empfehlung der Zahnheilkunde kauen einige von ihnen auch an Stiften oder Kugelschreibern, einer hat sogar mitten auf der Unterlippe einen großen Tintenfleck. Zu ihm führt mich General George.
    »Das ist der Mann«, sagt George Copsen mit gedämpfter Stimme und äußerst liebevoll. »Die Nummer eins. Er ist so klug wie Sie und ich und all die anderen zusammen. Er hat Albumen entworfen, es ist sein Baby. Sie werden mit ihm zusammenarbeiten!« Das Letzte klingt, als sei der Mann so etwas wie die Rolling Stones oder die Audrey Hepburn unserer Tage. Ich befinde mich in einem paranoiden, futuristischen Insektenbau unter der Erde. Die letzte Begegnung mit meinem Boss ging zwar mit nicht einvernehmlichen Folterspielen einher, aber ich werde mit dem Mann zusammenarbeiten, der einen ganzen Architekturstil entwickelt hat, den man als tödliche Waffe einsetzen kann. Jawohl, Sir, eh … George, jetzt fühle ich mich gleich besser. Trotz George Copsens Drängen bleibe ich stehen, sehe mich um und betrachte, was nun aus meinem Leben werden soll. Vielleicht fasst er es als Ehrfurcht auf.
    Der Raum ist in verschiedenen Grautönen gestrichen, die Decke ist mit den gleichen unregelmäßigen Vorsprüngen bedeckt wie der Flur. Wie alles andere haben auch die Schreibtische keine scharfen Kanten, aber ihre ungleichmäßigen Formen führen dummerweise dazu, dass die auf ihnen beschriebenen Blätter immer wieder langsam zu Boden segeln. Forschungsassistenten bücken sich alle zwei Minuten und heben sie wieder auf. Die Bewegungen scheinen einem bestimmten Rhythmus zu folgen, der meiner Einschätzung nach von der Höhe des Papierstapels, der Reibung zwischen den einzelnen Blättern und vielleicht auch der Menge an Grafit oder Tinte auf den Seiten abhängen muss. Anders ausgedrückt: Je fleißiger der Wissenschaftler, desto eher wird er seine besten Ideen unter dem Stuhl wiederfinden. Eins der Genies, eine Frau (ich zweifle nicht daran, dass alle hier Genies der einen oder anderen Art sind), hat ihre Notizen mittels Wäscheleinen über ihren Arbeitsplatz gehängt. Das löst das Lagerproblem, aber leider ist sie kurzsichtig und kann die Zettel am Ende der Leine im Sitzen nicht erkennen, sodass sie ihren Arbeitstag mit einer Art Eierkopf-Version von Aerobics verbringen muss: setzen, Zahlen prüfen, aufstehen, zum Ende laufen, zurücklaufen, setzen. Und das Ganze wieder von vorn. (Armageddonetics! Durchtrainiert dank der Superwaffe!)
    Im annähernden oder meinetwegen auch im mathematisch exakten Zentrum des Raums steht ein Plexiglasbehälter mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Auf dem Grund ist ein Schlachtfeld nachgebildet: Spielzeugsoldaten, künstliches Gras und eine Ansammlung nicht maßstabsgerechter Militärfahrzeuge, die jenen gleichen, die ich mit Gonzo im Garten hinter seinem Haus benutzt habe, um Zweiter Weltkrieg zu spielen. Dabei haben wir die Gänse mit Silvesterböllern gescheucht.
    Der Mann mit der Tinte auf der Lippe – der Einzige, der noch mehr Papier und Raum beansprucht als die Aerobicfrau – heißt Derek. Oder vielmehr, er soll Derek genannt werden, denn dies ist auf ein längliches Stück Metall graviert, das auf der linken oberen Taschenklappe seines weißen Kittels hängt. Also »Professor Derek«. Seine Bezeichnung mag verkürzt sein, aber das Erscheinungsbild überzeugt. Ein Streifen weißes Klebeband bedeckt präzise, aber ohne Sinn für Ästhetik den unteren Teil seines Namensschildes. Wider Willen bin ich fasziniert von

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