Die gelöschte Welt
oder kompatiblen Gründen hier sind, in die Haare. Die angenehme Sorte der Meinungsverschiedenheiten endet mit einigen groben Worten und Entschuldigungen. Aber die Meinungsverschiedenheiten zwischen Männern und Frauen, die zum Töten ausgebildet und mit den besten verfügbaren Waffen ausgerüstet sind, gehören meist einer anderen Sorte an. Nachdem man ein paar freundliche Worte gewechselt hat, fallen rasch Warnschüsse, und auf einmal ist eine kleine Schlacht im Gange. Kleine Schlachten wachsen sich zu internationalen Zwischenfällen aus, internationale Zwischenfälle fördern das Misstrauen, und aus Misstrauen entstehen Konflikte.
Infolge mehrerer kleiner Unstimmigkeiten befinden wir uns jetzt im Nicht-Krieg mit:
• der Gemeinsamen Eingreiftruppe für Addeh Katir (unterstützt von Frankreich, Vietnam und Italien – kommandiert von Baptiste Vasille)
• der Verteidigungsinitiative Addeh (geführt von einer eiskalten Frau aus Salzburg namens Ruth Kemner und gefördert von einer derart unterschiedlichen und häufig wechselnden Mitgliedschaft, dass nicht einmal die Anführerin sagen kann, für wen sie eigentlich kämpft)
• den Vereinten Nationen (Weißhelme mit Feuerwaffen, nicht ganz so beängstigend wie ein Schafhirte aus Addeh; sie unterhalten im Hinterland einen Landeplatz: für die unweigerlich eintretende humanitäre Katastrophe)
• der Armee von Addeh Katir (befehligt vom Oberkommandierenden Generalissimus, Kaiser und Präsident Erwin Kumar, überwiegend damit beschäftigt, dem Land die letzten Reste von Wohlstand abzupressen)
• den Freien Katirischen Piraten (Zaher Beys Horde von Dieben, Patrioten, Brandstiftern und Gaunern, die jederzeit jedem alles stehlen würden)
• der Südasiatischen und Panafrikanischen Strategischen Allianz (im Grunde echt nette Leute und glücklicherweise so weit weg einquartiert, dass wir sie nach den anfänglichen Missverständnissen nur ein einziges Mal zu Gesicht bekamen, sodass sich die Lage wieder etwas beruhigt hat)
• uns selbst, wie sich bei mehreren bedauerlichen Gelegenheiten zeigte, weil Unfälle eben unvermeidlich sind.
Nachdem diese Gegend nun ein Kriegsgebiet ist, scheint es fast so, als fänden es alle unhöflich, nicht mitzumachen.
Als ich bei Meister Wu lernte, erfuhr ich, dass seine Großmutter an eine schier unendliche Anzahl von Höllen glaubte. Für sie war die Unterwelt etwas wie der Palast eines Großwesirs oder ein Regierungsgebäude, und jede Etage war einer anderen Art des Leidens vorbehalten. Es gab eine Hölle der krabbelnden Fliegen, eine Hölle der kratzenden Unterwäsche, eine Hölle der lauwarmen Suppe und eine Hölle für alle nur denkbaren anderen Dinge, wie böse oder trivial sie auch sein mochten. Es gab eine Hölle des Schlangestehens und eine Hölle der Einsamkeit, eine Hölle der geschwätzigen Nachbarn und eine Hölle des stillen Kummers. Steigerungen waren die Hölle des kochenden Pechs und die Hölle der zerquetschten Finger. Und obendrein gab es noch eine Reihe weiterer Höllen, die sie nicht detailliert beschreiben wollte, die jedoch bei passender Gelegenheit mit bedeutungsschwerem Nicken und rollenden Augen zitiert wurden. Diese Höllen waren ohne ersichtliche Ordnung verteilt (abgesehen von einer Reihe von Höllen, die wegen ihrer Ordentlichkeit gefürchtet werden mussten). Als Aufseher fungierten unbestechliche Wächter, und für den Betrieb waren Sadisten, Reformatoren und alle möglichen anderen unversöhnlichen Leute zuständig, die sich durch nichts davon abbringen ließen, das Opfer in die jeweils zuständige Hölle zu schleppen, zu zerren, zu führen oder zu stoßen. Es gab sogar eine Hölle der ungewissen Vorahnung, in der man einfach nur herumsaß und auf die Hölle wartete, in die man letztlich befördert werden sollte. Eine Ewigkeit lang.
Wenn es etwas wie die Hölle des Nichterschossenwerdens gibt, dann befinde ich mich darin. Der Krieg geht seinen Gang (oder wenigstens ein Nicht-Krieg, der einem Krieg so ähnlich ist, dass man das eine nicht vom anderen unterscheiden kann) und lässt mich aus. Ich bin mitten darin, aber kein Teil davon. Männer, die ich kenne oder auch nicht kenne, marschieren, patrouillieren und werden manchmal erschossen. Ich habe trainiert und bin dafür ausgebildet, aber ich bin immer noch, wie Ronnie Cheung es ausdrücken würde, ein überzähliger Schwanz inmitten einer Orgie. Mein großer Augenblick ist noch nicht gekommen. Einige Ansätze sind vorhanden, ich übernehme
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