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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Hilfsarbeiten, weil George Copsen keine Ressourcen verschwenden will, aber das geschieht nur sporadisch und ist unbefriedigend. So warte ich und denke über große, bedeutende Angelegenheiten nach. Wie jetzt im Augenblick.
    Die Wände meines Zelts sind blau. Wenn ich auf meiner Pritsche auf dem Rücken liege, kann ich das linke Bein ausstrecken, mit dem großen Zeh einen losen weichen Faden erreichen, der aus der obersten Naht hängt, und daran ziehen. Mein rechtes Bein ist aus irgendeinem Grund zu kurz. Ich bin darauf gekommen, dass dies am Einfallswinkel liegt und nicht etwa an unterschiedlich langen Beinen, obwohl meine Beine wie bei jedem Menschen tatsächlich um eine Kleinigkeit unterschiedlich lang sind. Jedenfalls kommt es mir so vor, als hätte es eher mit dem Winkel zu tun. Gestern bin ich allerdings zu der entgegengesetzten Schlussfolgerung gelangt. Da habe ich mein Bett herumgedreht, das Kopfende zum Fußende gemacht, und nun bin ich sicher, dass es mit dem Winkel zu tun hat. Ich habe diese Erörterung als Verteidigung gegen die Langeweile entwickelt. Es hilft aber nicht.
    An manchen Tagen schicken sie mich auf idiotische Missionen, damit ich nicht den Verstand verliere. Diese Missionen verstärken meinen Eindruck, dass die ganze Situation irrational und undurchschaubar verworren ist und dass die einzig logische Reaktion darauf der Wahnsinn ist. Ich frage mich, wie ich es erkennen werde, wenn ich den Verstand verliere.
    In einer halben Stunde werde ich aufstehen und zu meinem Posten rennen, wo ich vier Stunden damit verbringen werde, am Leben zu bleiben und Schuldgefühle zu haben, weil ich noch nicht erschossen wurde.
    Inzwischen lese ich meine Briefe. Vor zwei Wochen schrieb ich einen kleinen Stapel Briefe nach Hause – die Evangelistin, Ma Lubitsch und der alte Lubitsch bekamen zusammen nur einen Brief, wobei ich aufpassen musste, nicht zu viel über Gonzo zu erzählen, der etwas Gefährliches und Geheimes tut, das man nicht aufschreiben darf. Ich schrieb einen Brief an Dr. Fortismeer und Postkarten an eine Menge Leute, die mir nicht so wichtig waren, weil ich hoffte, dass ich einem von ihnen wichtig wäre. An Elisabeth Soames schrieb ich nicht, weil sie nicht wissen soll, dass ich hier bin und so etwas tue. Sie gehört zu Cricklewood Cove, und solange sie dort ist, bin ich im Geiste auch dort, ebenso wie Meister Wu, und solange dies so ist, existiert noch ein kleiner Teil meines Lebens vor Jarndice. Außerdem ist es mir peinlich, dass ich noch nicht angeschossen wurde.
    Der alte Lubitsch antwortete mir und schrieb, Ma Lubitsch habe sich Sorgen gemacht und daher ein paar Pfund verloren. Aber sie fügte in Großbuchstaben einen Widerruf hinzu. Sie sagte, sie habe ein Fresspaket geschickt, das aber noch nicht angekommen ist. Dr. Fortismeer drängte mich, unbedingt auf persönliche Hygiene zu achten und im Angesicht der Feinde aufrecht zu stehen und fügte einige Nachrichten aus der Heimat hinzu, die anscheinend ganz gut ohne mich zurechtkommt. Er erwähnte noch eine Bitte der Universität, Geld für den Bau einer neuen Bleibe für das Damen-Wasserpoloteam der Universität zu spenden, in das er sehr große Hoffnungen setze. Und ganz am Schluss kam noch ein fröhliches Postskriptum, ich solle mich doch nach interessanten Beispielen für scharfe ausländische Sachen umsehen, was ich als Bitte um katirische Pornografie auffasste, falls es so etwas überhaupt gibt.
    Elisabeth Soames ließ mir über die örtliche Feldpost einen Brief zukommen, in dem sie mir mitteilte, dass sie sich ebenfalls hier draußen im Kriegstheater befindet. Sie arbeitet als Journalistin und schreibt für ein Boulevardblatt über die UN-Mission in Corvid's Field. In ein paar Tagen wird sie wieder abreisen – und sendet mir liebe Grüße. Sie schlägt mir nicht vor, sie zu besuchen – vielleicht, weil ich Soldat bin oder weil die Leute im Kriegstheater keine Höflichkeitsbesuche machen.
    Die Evangelistin antwortet mir ebenfalls, aber nur das Datum und die Unterschrift haben die Schere des Zensors überlebt. Der Rest ihrer Mitteilung wurde mit einer Rasierklinge entfernt, und nun habe ich das schlaffe Gerüst eines ausgeweideten Briefs vor mir. Es ist ein wenig gespenstisch – ein Zombiebrief. Mitten in der Nacht wird er sich aus dem Grab erheben und die anderen Briefe fressen. Mit den Anreden wird er beginnen. Dann kriecht er ins Lager und wütet dort, und einige Fetzen, die er hinterlässt, werden ein Eigenleben entwickeln.

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