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Die Geometrie der Wolken

Die Geometrie der Wolken

Titel: Die Geometrie der Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Foden
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zu fassen.
    Ich war nicht der Einzige, der litt. Hunderte starben 1931 in der Schlammlawine am Zomba, aber für mich ist es der Zeitpunkt, als die psychische Nacht - und die Physik der Atmosphäre - in meinen Kopf einzogen. Es war eine Art Schwindelgefühl in meinem Leben, das seltsamerweise nicht nur ich verspürte. Noch Monate nach der Lawine gab es eine Schwindelepidemie - mit Symptomen wie Zuckungen und Gleichgewichtsverlust - unter den Chichewa, die dort wohnten. Eine psychosomatische Reaktion der Überlebenden auf die Lawine, die sich wie ansteckend in der Bevölkerung verbreitete. Oft folgte Nasenbluten. Ich selbst litt an etwas Ähnlichem, sagten die Ärzte, und vielleicht ist mir diese Zeit deshalb so unklar in Erinnerung.
    Aber trotzdem vermisse ich Nyasaland sehr. Es ist ein Teil dessen, was mich geformt hat, und eines Tages möchte ich dorthin zurückkehren. Ich liebte es, wie der Tabak an Schnüren löwenfarben braungelb im Trockenschuppen hing. Ich liebte das palmengesäumte Seeufer und die korbartigen Nester der Webervögel weiter oben am glitzernden Band des Flusses Shire - wo unter hoch aufragenden grünen Wänden die Flussschiffer im Rhythmus eines Lieds ihre Kanus voranstaken, das die Seele erzittern lässt.
    Was ist mit der Vergangenheit geschehen? Warum wurde sie mir genommen? Wer hat sie abgesaugt wie die Moskitos das Blut der Schiffer, auf deren Rücken sie sitzen?
     

11.
    Am Sonntag ging ich wie abgemacht zum Mittagessen zu den Rymans. Der Prophet begrüßte mich persönlich. Mein erster Eindruck: ein Mann Anfang fünfzig mit einem intelligenten, aber irgendwie besorgten Gesicht und widerspenstigen, abstehenden grauen Haaren. Unter einer markanten Stirn und auf einer kleinen platten Nase trug er eine schwarze Brille, die am Steg mit Heftpflaster umwickelt war, außerdem einen schwarzen Schlips unter einem gestärkten Kragen mit abgerundeten Ecken sowie einen altmodischen grauen Anzug. Die Bügelfalten seiner Hose waren perfekt. Die Kappen seiner Schuhe glänzten wie Billardkugeln. Das war ungewöhnlich. Meiner Erfahrung nach kümmern Wissenschaftler sich eher nicht um ihre Schuhe.
    Mein Blick wanderte wieder an ihm hinauf. Mir fiel auf, dass er groß war, seine Stirn hoch und glatt, seine Mundwinkel zeigten nach unten. Er wirkte nicht wie ein allzu fröhlicher Mensch. Abgesehen von den wilden Haaren sah Professor Ryman eigentlich aus wie ein Leichenbestatter.
    »Es tut mir leid, dass ich Sie bei Ihrem letzten Besuch nicht empfangen konnte, Mr Meadows; ich war bei der Gartenarbeit«, sagte er. »Eine wunderschöne Theorie hielt mich erbarmungslos gefangen, und der Garten ist für mich der beste Zufluchtsort. Sie ist jetzt vollendet. Zumindest habe ich sie aufgeschrieben. Kommen Sie herein.« Seine Stimme war eine seltsame Mischung von Weiche und Härte; sie setzte honigsüß an und endete in einer Art Husten, als wäre er ein Sänger, der einen Krümel im Hals bemerkt.
    Ich folgte ihm den Flur entlang unter der seltsamen Anordnung aus Schnüren und Rohren hindurch, an denen ich mich zuvor gestoßen hatte, und vorbei an einem großen Wandspiegel, der in diesem spartanischen Haushalt viel zu protzig wirkte.
    »Darf ich fragen, worum es bei Ihrer Theorie ging?«, wollte ich wissen und manövrierte mich um einen großen Ofen herum, der seltsamer- und unpraktischerweise am Fuß der Treppe stand.
    Ich bekam keine Antwort.
    Wir betraten das Wohnzimmer, in dem mir eine Standuhr und ein Klavier auffielen. Mrs Ryman und ein Geistlicher mit einem Gipskragen unterhielten sich am Fenster. »Das ist die gnostische Sichtweise«, hörte ich den Pfarrer sagen. »Eine Enthüllung. Das Offenlegen von etwas, das geheim erscheint.«
    Ryman wartete eine Weile. Seine Schultern zogen sich merklich nach oben, aber er sah sich nicht nach mir um. »Die latenten Wurzeln einer Matrix«, kam plötzlich die Antwort auf meine Frage, die ich schon fast wieder vergessen hatte.
    Der Pfarrer, ein Mann mit rotem Gesicht, setzte seinen Vortrag fort. »Das heißt, das Innere gleicht dem Äußeren. Aber die Gleichwertigkeit selbst ist das Geheimnis. Sie müssen wissen, dass im orphischen Ritus der Mystiker derjenige war, der den Mund hielt. Der Stumme. Griechisch
muein
ergab
mustes,
Mystiker. Verstehen Sie?«
    Mrs Ryman nickte. Überrascht von den Gefühlen, die in mir aufwallten, starrte ich sie an. Ihre Gesichtshaut war von so üppiger Gesundheit, dass ich das seltsame Verlangen spürte, sie abzulecken. Ich versuchte, mir diesen

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