Die Geometrie der Wolken
Stimme quäkte aus dem Lautsprechergitter. »Ja?«
»Vers sechs und Besucher. Mr Meadows.«
»Ich frag eben beim Chef nach«, erwiderte die Stimme. Still warteten wir in dem erdrückend engen Raum, bis die Stimme sich wieder meldete.
»Frag ihn, wie der Seelöwe hieß.«
Mein Wächter ließ mich in das Gitter sprechen. »Er hieß Lev«, antwortete ich in dem schweren Anzug nach vorne gelehnt. »Leviathan.«
Die Tür öffnete sich mit einem Zischen, und wir betraten ein riesiges Kühlhaus - in dem es noch deutlich kälter war als im Korridor und in dessen Mitte verschieden große Eisblöcke und anderen Materialien standen wie Holz, Mauerwerk und Beton. Es gab verschiedenartige Ausrüstungsgegenstände - lange Stahlwannen, elektrische Gefriermaschinen, eine Art Industrieschraubstock -, doch ich konnte den Zweck dieses seltsamen Labors nicht verstehen. Von der Decke hingen Lampen mit Metallschirmen, die Lichtpyramiden durch die dampfende Luft scheinen ließen.
Aus den Dämpfen kamen drei Männer auf uns zu, alle in Pilotenanzügen. Einer hatte eine Pistole am Gürtel; ein anderer trug eine Maschinenpistole. Ich zögerte, doch dann schob der Unbewaffnete seine Brille hoch.
»Meadows!«, rief Pyke und griff mich bei den Schultern. »Willkommen bei Habbakuk!«
»Das hier ist also Habbakuk«, sagte ich und sah mich um. »Ich bin noch kein Stück schlauer.«
»Gut. Lassen Sie mich erklären. Wir stellen erheblich verstärktes Eis her, aus dem Schiffe gebaut werden sollen. Es geschieht alles unter der Schirmherrschaft von Lord Mountbatten, wie ich sicher schon erklärt habe. Meine Laborassistenten sind Kommandosoldaten aus seinem Combined-Operations-Personal. Ich nenne sie Vers eins, zwei, drei und so weiter - nach Habakuk in der Bibel. Wenigstens fast. Auf offiziellen Dokumenten wird es wegen eines Tippfehlers mit zwei b geschrieben.«
»Und was hat das alles mit Schiffen aus Eis zu tun? Ist das überhaupt möglich?«
»>Schaut hin unter die Heiden, seht und verwundert euch! Denn ich will etwas tun zu euren Zeiten, was ihr nicht glauben werdet, wenn man davon sagen wird.<«, trug Pyke vor und wiederholte teilweise, was er damals im Pub in der Nähe von Dunoon gesagt hatte. »Kapitel eins, Vers fünf. Ach, egal. Kommen Sie mit zu Julius.«
»Brecher? Ist er hier?«
»Ja. Ich habe ihn mir für ein paar Tage vom Cavendish Laboratory in Cambridge ausgeliehen. Er rührt gerade Pykerete an. Das ist das Material, aus dem wir die Schiffe bauen. War Mountbattens Idee, es nach mir zu benennen, und nicht meine. Julius«, rief er, »sieh mal, wer uns besuchen kommt.«
Brecher sah auf. »Meadows! Ich habe neulich erst an Sie gedacht. Ihre Bekannte da oben in Schottland. Ich habe ihr das Ergebnis der Blutuntersuchungen geschickt, aber sie hat nie geantwortet.«
Ich spürte eine schäbige Erleichterung, dass Gill ebenso nachlässig im Briefeschreiben war wie ich; obwohl die Größenordnung der beiden Versäumnisse natürlich in keinem Verhältnis stand. »Was haben Sie ihr geschrieben?«
»Naja, das ist alles eher privat.«
»Ist schon in Ordnung, sie ist eine gute Freundin von mir«, erwiderte ich. Die Übertreibung oder Lüge, wie man sie auch nennen mochte, schoss so glitschig hervor wie eine Forelle aus den Händen eines Fischers.
Brecher musterte mich. »Na gut«, fing er an. »Sie wollte wissen, ob die beiden Blutproben, die sie mir geschickt hatte, eine Rhesusinkompatibilität aufwiesen. Ich antwortete ihr, dass wahrscheinlich keine vorlag, obwohl eine der beiden Proben von ziemlich schlechter Qualität war. Sie hat sie mir ausgerechnet auf einem Taschentuch geschickt.«
Mir wurde klar, dass er von meinem Blut sprach. Er rührte beim Sprechen weiter in dem Eisgemisch.
»Es ist nämlich so, dass fast alle Blutzellen Antikörper einer bestimmten Art tragen, was unter bestimmten Umständen - zum Beispiel, wenn während der Schwangerschaft Zellen des Fötus in den Blutkreislauf der Mutter übergehen - zu Schwierigkeiten führen kann. Es gibt aber noch offene Fragen, was diesen Aspekt angeht.« Beim Wort
Aspekt
war sein deutscher Akzent deutlich zu hören.
»Was für Schwierigkeiten?«
»Letztendlich intrauteriner Fruchttod. Tod des Kindes im Mutterleib.«
Plötzlich hatte ich - wie am Ende eines langen Ganges - die Reihe der Fehlgeburten vor Augen: Jedes einzelne kleine Menschlein watschelte auf Gill und Ryman zu, halb fertig und schreiend. Auf diesem Gebiet wenigstens war die Rolle der Wissenschaft als Helfer der
Weitere Kostenlose Bücher
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Online Lesen
von
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt